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EU-Gericht: Bürger können EU-Institutionen verklagen bei Spardiktat oder Enteignung – das „Gemeinwohl“ schmälert die Erfolgsaussichten

Auf den ersten Blick hat der Europäische Gerichtshof eine recht nüchterne Angelegenheit abgehandelt. Die Kurzfassung: 2012 geriet Zypern durch die kaputten Banken in eine Schieflage. Die EU-Partner...

FMW-Redaktion

Auf den ersten Blick hat der Europäische Gerichtshof eine recht nüchterne Angelegenheit abgehandelt. Die Kurzfassung: 2012 geriet Zypern durch die kaputten Banken in eine Schieflage. Die EU-Partner und der IWF eilten zur Hilfe, gaben Geld, aber nur unter Auflagen. Inhaber hoher Einlagen wurden Teile ihrer Gelder weggenommen, was die natürlich als Enteignung ansahen. Einige wenige klagten bis rauf zum Europäischen Gerichtshof, dass die EU-Institutionen ihnen unrechtmäßig ihr Eigentum entzogen hätten. Nun, das kann man so oder so sehen.

Einerseits haben sie recht, dass ihnen einfach Teile ihrer Bankguthaben weggenommen wurden, und das sogar noch durch ausländische Institutionen wie der EU-Kommission. Naja, weggenommen ist eigentlich der falsche Begriff – ihre Guthaben wurden zur teilweise Entschuldung der kaputten Banken herangezogen. Jeder Kontoinhaber trägt überall das Risiko, bei einer Bankpleite Gelder nicht zurückzuerhalten, wenn diese über den Garantiesummen liegen (100.000 Euro). Hätten EU-Institutionen + IWF nicht geholfen, wären diese Gelder sowieso ganz weg gewesen.

Das nun letztlich gültige Urteil des EuGH: Die Enteignung der Kontoinhaber war rechtens, da das Gemeinwohl Europas hier höher zu bewerten war – in dem Fall die Aufrechterhaltung des zypriotischen Bankensystems, was letztlich die dortige Wirtschaft und Gesellschaft am Laufen hält. Für so eine Enteignung muss also letztlich ein triftiger Grund vorliegen, der wichtiger ist als der Schutz des individuellen Eigentums. Ähnlich urteilen ja sonst auch nationale Gerichte zum Beispiel bei Enteignungen von Grundstücken, wenn zum Beispiel Autobahnen etc gebaut werden müssen.

Wegweisend

Wichtig ist für die Grundrechte der EU-Bürger an diesem Urteil aber: Die Richter sehen es als grundsätzlich möglich an, dass Bürger Institutionen wie die EZB oder die EU-Kommission verklagen können, wenn sie ihre Grundrechte (wie hier das Recht am eigenen Besitz) verletzt sehen, als Folge von Rettungsmaßnahmen. Das könnte zum Beispiel auch Folge-Klagen aus Griechenland nach sich ziehen, wo ja verdammt viele Bürger durch die Beschränkungen der Troika-Vorgänge betroffen sind. Folgt von dort bald eine Klagewelle? Dann könnte es aber schwierig werden, denn verschlechtert haben sich dort ja die Lebensbedingungen, nachdem die griechische Regierung Troika-Anweisungen in griechisches Recht umgesetzt hat. Muss man also erst Athen verklagen, und nach Zurückweisung danach die nächst höhere Institution, die EU-Kommission oder die EZB? Es ist ein ganz neues Rechtsgebiet, das hier beschritten wird. Wichtig scheint dem EuGH zu sein: Der Kläger muss belgen, dass seine Grundrechte verletzt wurden, und dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeit das Allgemeinwohl nicht über dem verletzten individuellen Grundrecht stand. So darf man es wohl auslegen. Hier ein Auszug aus dem EuGH-Urteil:


In Bezug auf die Rechtsmittel, die die Schadensersatzklagen betreffen (verbundene Rechtssachen C-8/15 P bis C-10/15 P), ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Umstand, dass die der Kommission und der EZB im Rahmen des ESM-Vertrags übertragenen Funktionen keine Entscheidungsbefugnis im eigentlichen Sinne umfassen und nur den ESM verpflichten, es nicht ausschließt, von der Kommission und der EZB Schadensersatz wegen ihres vermeintlich rechtswidrigen Verhaltens beim Abschluss eines MoU im Namen des ESM zu fordern. Die der Kommission und der EZB im Rahmen des ESM übertragenen Aufgaben verfälschen nämlich nicht die Befugnisse, die ihnen der EU-Vertrag und der AEU-Vertrag übertragen. Somit behält die  Kommission im Rahmen des ESM-Vertrags ihre Rolle als Hüterin der Verträge, wie sie sich aus Art. 17 Abs. 1 EUV ergibt, so dass sie davon Abstand nehmen muss, ein MoU zu unterzeichnen, dessen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sie bezweifelt. Der Gerichtshof schließt daraus, dass das Gericht rechtsfehlerhaft festgestellt hat, dass es nicht befugt sei, die auf die Rechtswidrigkeit einiger Bestimmungen des MoU gestützten Schadensersatzklagen zu prüfen. Er hebt daher die Beschlüsse vom 10. November 2014 auf.

Da die Rechtssachen entscheidungsreif sind, beschließt der Gerichtshof, selbst über die Schadensersatzklagen zu entscheiden. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die außervertragliche Haftung der Union vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen abhängt, und zwar erstens der Rechtswidrigkeit des dem Unionsorgan vorgeworfenen Verhaltens, zweitens dem tatsächlichen Bestehen des Schadens und drittens der Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden. Was die erste Voraussetzung anbelangt, muss ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm nachgewiesen werden, die dem Einzelnen Rechte verleihen soll. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rechtsnorm im vorliegenden Fall Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EU ist, in dem es heißt, dass jede Person das Recht hat, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen. Zwar führen die Mitgliedstaaten im Rahmen des ESM-Vertrags nicht das Unionsrecht durch, so dass die Charta in diesem Rahmen nicht für sie gilt3 ; für die Unionsorgane gilt die Charta jedoch auch dann, wenn sie außerhalb des EU-Rechtsrahmens handeln. Die Kommission muss sich daher vergewissern, dass ein solches MoU mit den in der Charta verbürgten Grundrechten vereinbar ist.

Gleichwohl ist die erste Voraussetzung für die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union im vorliegenden Fall nicht erfüllt: Die Annahme des fraglichen MoU entspricht nämlich einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Union, und zwar dem, die Stabilität des Bankensystems der Euro-Währungsgebiets insgesamt sicherzustellen. Unter Berücksichtigung dieses Ziels und der Art der geprüften Maßnahmen und in Anbetracht der den Einlegern bei den beiden betroffenen Banken im Fall von deren Zahlungsunfähigkeit unmittelbar drohenden Gefahr finanzieller Verluste stellen diese Maßnahmen keinen unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff dar, der das durch Art. 17 Abs. 1 der Charta gewährleistete Eigentumsrecht der Einleger in seinem Wesensgehalt antastet. Sie können daher nicht als ungerechtfertigte Beschränkungen  dieses Rechts angesehen werden. Die Kommission hat demnach nicht zu einer Verletzung des Eigentumsrechts der Personen, die die Klagen erhoben haben, beigetragen. Da die erste Voraussetzung für die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union nicht erfüllt ist, weist der Gerichtshof die Schadensersatzklagen ab.



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