Hintergrund

„Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand“

Das Buch von Harald Welzer mit dem Titel „Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand“ halten wir für eines der wichtigsten Werke der letzten Jahre. Welzer zeigt darin, dass unser Glaube an ewiges Wachstum vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen nicht funktioniert und funktionieren kann. Wir verkonsumieren bereits im Hier und Jetzt unsere Zukunft:

„Die Kultur des ALLES IMMMER verbraucht die Zukunft derjenigen, die das Pech hatten, später geboren zu sein als Sie“.

Und weiter: Im Konsumismus „werden Arme auch nicht als Feinde betrachtet, sondern als Konsumenten in spe. Der Konsumismus kennt keine Feinde, weil sein Erfolg davon abhängt, dass alle mitmachen. Er ist unpolitisch und bietet daher auch kein identifizierbares Ziel. (..) Der universale Konsumismus ist dagegen wertneutral, objektiv, robust. Ihn anzugreifen kommt einem Angriff auf uns selbst gleich. Daher werden die letzten weißen Flecken auf der Weltkarte des totalitären Konsumismus bald verschwinden“.

In diesem Buch geht es darum, unseren Tunnelblick zu thera-
pieren. Sein Titel »Selbst denken« ist natürlich ein Verweis auf
das kantische Programm des »Ausgangs des Menschen aus sei-
ner selbstverschuldeten Unmündigkeit«; dafür muss er denken,
der Mensch, selbst denken. In einer Zeit, in der die gesellschaft-
liche Entwicklungsrichtung dem zuwiderläuft, was zukunfts-
fähig wäre, reicht Denken allein aber nicht aus: Es muss auch
etwas getan werden, um die Richtung zu ändern. Nach mehr als
zwei Jahrhunderten Aufklärung, Emanzipation und Freiheit
steht Selbstaufklärung heute unter anderen Voraussetzungen
als bei Kant: Sie muss sich gegen materielle, institutionelle und mentale Infrastrukturen behaupten,
die sich der Erfolgsgeschichte einer Kultur verdanken, die jetzt in eine gefährliche Geschichte des Scheiterns umzuschlagen droht, weil dem System die Voraussetzungen abhandenkommen, auf die es gebaut ist.
Und die Selbstaufklärung muss sich gegen eine mediale Be-
nutzeroberfläche durchsetzen, die so dicht gewoben ist wie nie
zuvor – was bedeutet, dass es noch nie so leicht war, sich mit
Wissen zu versorgen wie heute, und noch nie so schwer, sich
in der scheinbaren Unterschiedslosigkeit unendlich verfügbarer
Informationen zurechtzufinden. Aufklärung bedeutet heute:
Gewinnung von Unterscheidungsvermögen. Und vor allem:
Selbstaufklärung muss sich gegen die allgegenwärtigen konsu-
mistischen Verführungen durchsetzen, indem sie darauf be-
harrt, dass es nicht schon automatisch Sinn macht, alles haben
zu wollen, nur weil man alles haben kann.

Konsumismus ist heute totalitär geworden und treibt die Selbstentmündigung
dadurch voran, dass er die Verbraucher, also Sie, zu ihren eigent-
lichen Produkten macht, indem er Sie mit immer neuen Wün-
schen ausstattet, Wünsche, von denen Sie vor kurzem nicht einmal ahnten, dass Sie sie jemals hegen würden.

Das Buch erzählt, wie man Exits aus dem Tunnel finden
kann, Notausgänge, aber eben auch schmale Ritzen, Löcher und
Durchblicke, die sich zu Ausgängen erweitern und ausbauen
lassen: vom Suchen also nach den Stellen, an denen man die
feste Wirklichkeit perforieren kann, die uns in der vermeint-
lichen Massivität ihres So-Seins im Griff zu haben scheint. Wo-
bei das nicht richtig formuliert ist: Die Signatur unserer Ge-
genwart ist vielmehr, dass wir uns freiwillig in den Griff dieses
hochmodernen Gehäuses der Hörigkeit begeben – niemand
zwingt einen dazu, obwohl alles danach aussieht, als ob jede
Menge Zwänge am Werk sind: der Wettbewerb, der Zeitdruck,
der Markt, das Wachstum und noch ziemlich viel mehr.

Aber es herrscht kein Krieg in Deutschland, keine Gewalt-
herrschaft. Es gibt kein Erdbeben, keine Überschwemmung.
Kein Hurrikan bedroht unsere Existenz, und trotzdem behaup-
ten die meisten Leute, sie hätten keine Wahl. Das ist eine ziemlich arrogante Mitteilung,
wenn man das Privileg hat, in einer freien und reichen Gesellschaft zu leben, aber das fällt nicht
weiter auf, wenn alle so etwas sagen. Es ist übrigens auch eine
arrogante Behauptung gegen sich selbst: Man erklärt sich selbst
für so doof und inkompetent, dass man trotz einer guten Aus-
bildung, eines im Weltmaßstab exorbitanten Einkommens und
Lebensstandards, trotz jeder Menge Freizeit, Mobilität und Wahl
zu allem und jedem, »nichts machen« kann gegen die weitere
Zerstörung der Welt. Und man weist empört jede Aufforderung
zurück, man solle doch Verantwortung übernehmen dafür, dass
die Welt besser und nicht permanent schlechter wird.
Augenblick: Denken Sie nach, was Sie gedacht haben, wenn
Sie jetzt gerade »Gutmensch« gedacht haben. Sie haben es schon
für eine Zumutung gehalten, dass jemand ernsthaft davon aus-
geht, dass es Möglichkeiten und Verpflichtungen geben könnte,
in seinem eigenen Einfluss- und Verantwortungsbereich dafür
zu sorgen, dass die Zukunft nicht schlechter wird als die Gegen-
wart. Das dumpfe Einverstandensein mit aller Verschlechterung
der Zukunftsaussichten zeigt sich vor allem darin, dass wir
widerspruchslos in einer Kultur leben, in der »Gutmensch« ge-
nauso als Beleidigung gilt wie »Wutbürger«. Dabei sind das
doch nur die Invektiven der mit allem Einverstandenen gegen
die, die ihnen am eigenen Beispiel demonstrieren, dass es kei-
nen, aber auch nicht den geringsten Grund gibt, stolz noch auf
die eigene soziale Impotenz zu sein. Schließlich sind die so Apo-
strophierten ja Menschen, die für etwas eintreten, und dagegen
kann man ja nur sein, weil das die eigene Lethargie in Frage
stellt. Anders gefragt: Sind »Schlechtmenschen« das Rollenmo-
dell, das Sie favorisieren? Wollen Sie selber einer sein?



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