China steht vor einer großen Aufgabe: Das angestrebte Wirtschaftswachstum von 5% scheint schwer erreichbar. Die Veröffentlichung des Bruttoinlandsprodukts des dritten Quartals zeigt die ernste Lage. Trotz offizieller Beschwichtigungen ist deutlich, dass die Nervosität in Beijing wächst und die Regierung eilig Maßnahmen ergreift, um die Situation zu stabilisieren.
China mit Verkündung des BIP – Pekings Panik in Monotonie verpackt
Zu den markantesten Eigenschaften chinesischer Beamter gehört ihre Ausdruckslosigkeit sowie das monotone Vortragen von Reden – ganz ähnlich wie die formelhaften Einleitungen offizieller Kommuniqués, die jedoch noch nicht an die Stilblüten der untergegangenen DDR heranreichen. Beides erweckt bei Beobachtern chinesischer Rituale reflexartig den Drang, in Agonie zu verfallen, selbst wenn es sich um das vielleicht bedeutendste wirtschaftspolitische Ereignis des Jahres handelt: die Verkündung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des dritten Quartals.
Dennoch lag über den Veröffentlichungen und der Pressekonferenz ein Hauch jener Panik, die Peking in den letzten Wochen erfasst hat. Die zentrale Aussage des Tages lautete: „Die wirtschaftliche Entwicklung ist weitgehend stabil.“ Angesichts der Nervosität innerhalb der Regierung verlief die Präsentation der Zahlen allerdings recht unspektakulär. Das BIP stieg auf Jahresbasis um 4,6 %, minimal mehr als die von Experten erwarteten 4,5 %, aber immer noch weit entfernt von dem anvisierten Zielwert von 5 %. Diese 5 % sind jedoch eine fast magische Grenze: China benötigt dieses Wachstum mindestens, um Schul- und Universitätsabsolventen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Jugendarbeitslosigkeit und sinkende Gehälter: Eine gefährliche Kombination
Dass dies derzeit nicht gelingt, ist offensichtlich. Seit Januar 2023 steigt die Jugendarbeitslosigkeit, selbst nach der Einführung neuer Erhebungsmethoden. Die Brisanz dieser Entwicklung wird klar, wenn man bedenkt, dass angehende Studenten weder ihr Studienfach noch den Studienort frei wählen können. Die Hochschulzulassungsprüfung, auch „Gaokao“ genannt, versetzt das Land jedes Jahr in einen Ausnahmezustand. Als Gegenleistung für diese Opfer versprach die Partei bislang, dass jeder Absolvent einen gut bezahlten Job erhalten würde. Doch inzwischen muss selbst ein Physik-Master-Absolvent den Titel eines „Infrastruktureller Harmonisierungsbeauftragten“ – sprich Hausmeister – tragen, um national berühmt zu werden.
Deflation und schwacher Konsum: Wo bleibt das Vertrauen?
Einen zusätzlichen Beitrag zur allgemeinen Unzufriedenheit leisten die sinkenden Einstiegsgehälter. Im dritten Quartal sanken die durchschnittlichen Monatsgehälter, die Unternehmen in den 38 wichtigsten chinesischen Städten neuen Angestellten anboten, um 0,6 % auf 10.058 Yuan (etwa 1.273 Euro). Dies ist nur eine von vielen Zahlen, die die Panik in Peking ausgelöst haben. Eine andere ist die fortschreitende deflationäre Tendenz. Im September sank der Verbraucherpreisindex (CPI) auf eine Wachstumsrate von nur noch 0,4 %, während die Einkaufspreise um 2,8 % zurückgingen. Dies liegt weit entfernt von dem Anfang des Jahres verkündeten Inflationsziel von 2-3 %. Ökonomen und Staatsführer fürchten Deflation mehr als der Teufel das Weihwasser – oder in China der Qiongqi einen Spiegel. Japan lässt grüßen.
Auch der Konsum zeigt sich schwach. Die Autoverkäufe, ein wichtiger Indikator für den Konsum, stiegen lediglich um 2 %. Die heute verkündeten Zahlen zu den Einzelhandelsumsätzen wirken auf den ersten Blick zwar positiv – sie stiegen um 3,2 % und lagen damit über den Erwartungen –, doch dahinter stehen vor allem die ersten Erfolge der staatlichen Stimuli. Bis zum 15. Oktober haben 20,667 Millionen Verbraucher in China den Austausch alter Konsumgüter gegen neue Haushaltsgeräte beantragt, was zu einem Umsatz von 69,09 Milliarden Yuan (etwa 8,82 Milliarden Euro) führte. Dennoch hat sich das Verbrauchervertrauen in den letzten Monaten weiter abgeschwächt und erreichte im August einen historischen Tiefpunkt.
Immobilienmarkt und Börsenverluste: Der schleichende Wertverfall
Diese Konsumzurückhaltung speist sich nicht nur aus mangelndem Vertrauen, sondern auch aus einem sehr realen Wohlstandsverlust. Die Löhne sinken, Arbeitsplätze werden unsicherer, und vor allem verlieren Vermögenswerte kontinuierlich an Wert. Der Shanghaier CSI300-Index hat seit seinem Höchststand im Februar 2021 bis Mitte September 2024 rund 45 % an Wert eingebüßt. Die Preise für Bestandsimmobilien fallen seit 2019 stetig. Im September sanken die Preise für bestehende Immobilien in den vier größten Städten – Peking, Shanghai, Guangzhou und Shenzhen – um 1,2 %. In Städten der zweiten und dritten Kategorie betrug der Rückgang 0,9 %. Oder wie es Bauminister Ni Hong in typisch bürokratischer Lyrik formulierte: „Der Rückgang bei wichtigen Indikatoren wie Investitionen in die Immobilienentwicklung und Neubauverkäufe verringert sich weiterhin.“ Mit anderen Worten: Die Vermögenswerte erodieren weiter.
Der offizielle Einkaufsmanagerindex (PMI) liegt seit Mai unter der kritischen Marke von 50, was auf eine schrumpfende Wirtschaft hinweist. Selbst der Caixin PMI fiel im September auf 49,3 und zeigt damit, dass auch die exportorientierte Wirtschaft Schwierigkeiten hat. Trotz der Bemühungen der Regierung, die Privatwirtschaft zu unterstützen, bleibt das Vertrauen in diesem Sektor seit den umfassenden Regulierungen und politischen Restriktionen ab 2019 bedrückend niedrig. Obwohl die Regierung seit dem letzten Jahr versucht, die Privatwirtschaft mit öffentlichen Solidaritätsbekundungen zu ermutigen und Unternehmer als „einen von uns“ zu bezeichnen, bleiben diese Bemühungen größtenteils rhetorischer Natur. Immer wieder tauchen Berichte über willkürliche Verhaftungen von Unternehmern oder Ausreiseverbote auf. Der Name, der hinter diesem Misstrauen steht: Premierminister Li Qiang.
Wirtschaftliche Maßnahmen in China: Altes Rezept für neue Probleme?
All dies hat zu der panikartigen Reaktion der Führung kurz vor der „Golden Week“ geführt. Eine Maßnahme jagt die nächste, und es fällt schwer, den Überblick zu behalten. Chinas Führung leidet immer noch unter den Nachwirkungen des massiven Konjunkturpakets von 2008, das 30 Billionen Yuan (etwa 3,91 Billionen Euro) in die Wirtschaft pumpte und letztlich zu Überkapazitäten, verschwenderischen Projekten und umweltschädlichen Industrien führte. Trotz der Machtkonzentration unter Präsident Xi Jinping bleibt der Einfluss lokaler Parteichefs stark. Eine erneute großangelegte Lockerung würde wiederum minderwertige Entwicklungen fördern, da jede Provinz ihre eigenen Projekte priorisiert. Deshalb beschränkte sich die Regierung auf sanftere Maßnahmen zur Wachstumsförderung. Ursprünglich sollte der Plan von Li Qiang die strukturellen Probleme der Wirtschaft anpacken, doch die düsteren Wirtschaftsdaten im August zwangen zu drastischen, kurzfristigen Maßnahmen, um vor dem 75. Jahrestag der Volksrepublik eine positive Stimmung zu erzeugen und das Wachstumsziel von 5 % zu erreichen.
Internationale Konflikte: Überkapazitäten und Handelskriege
Doch auch das internationale Umfeld erweist sich als Herausforderung. Überkapazitäten, Strafzölle auf chinesische Elektroautos und der anhaltende Handelskrieg mit den USA verschärfen die Probleme. Die bislang verkündeten Maßnahmen zielen vor allem darauf ab, den Immobilienmarkt zu stabilisieren, die Liquidität im Finanzsystem zu erhöhen und das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen. Zinssenkungen sollen die Kreditaufnahme erleichtern und Investitionen anregen, während spezielle Kreditprogramme Unternehmen helfen sollen, ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen und weiter zu investieren.
Stabilisierungsmaßnahmen mit Schattenseiten: Immobilienmarkt im Fokus
Am Immobilienmarkt zeigen sich erste Erfolge. Während der „Golden Week“ stiegen die Verkäufe von Immobilien in wichtigen Städten um 23 % im Vergleich zum Vorjahr. Laut einer Umfrage wurden in dieser Woche tausende neue Verträge abgeschlossen. Experten führen diesen Anstieg auf lokale Maßnahmen zurück, die Ende September in Kraft traten und das Vertrauen in den Markt gestärkt haben.
Doch auch diese Erholung hat eine Schattenseite: Viele Hauseigentümer realisieren Verluste, wenn sie ihre Immobilien verkaufen. Die Preissenkungen der letzten Jahre bedeuten, dass viele zu niedrigeren Preisen verkaufen müssen, als sie ursprünglich gezahlt haben. Somit geht die Stabilisierung des Marktes oft mit finanziellen Verlusten auf individueller Ebene einher.
China plant zudem die Ausgabe von Ultra-Long Bonds im Wert von 6 Billionen Yuan (etwa 780 Milliarden Euro) über die nächsten drei Jahre, um die Schuldenkrise der lokalen Regierungen in den Griff zu bekommen und die Wirtschaft zu stimulieren. Diese Anleihen, die über spezielle Zweckgesellschaften (Special Purpose Vehicles) außerhalb des Haushalts ausgegeben werden, sollen Laufzeiten von über zehn Jahren haben.
Einige Experten vermuten, dass China das Defizitziel im kommenden Jahr auf etwa 5 % anheben könnte, um eine einmalige Schuldenrestrukturierung im Umfang von über 3 Billionen Yuan (etwa 390 Milliarden Euro) zu ermöglichen. Chinas Schuldenquote im Verhältnis zum BIP erreichte im ersten Quartal 2024 einen Rekordwert von 366 %, was bedeutet, dass für jede Einheit des BIP 3,66 Einheiten Schulden anfallen. Diese Maßnahmen lassen erkennen, dass Peking auf altbewährte Lösungen zurückgreift, die jedoch die bestehenden strukturellen Probleme weiter verschärfen. Ein Konjunkturpaket allein wird die Schuldenkrise Chinas nicht lösen, sondern lediglich den langfristigen wirtschaftlichen Schmerz verlängern.
Der leichtere Zugang zu Krediten durch die jüngsten Maßnahmen verstärkt die Überkapazitäten in China weiter. Viele Unternehmen werden versucht sein, ihre Produktion zu erhöhen, um von den günstigeren Kreditkonditionen zu profitieren. Doch dies führt nur dazu, dass mehr Produkte auf einen bereits übersättigten Markt drängen, was den Preisdruck erhöht und die Profitabilität weiter verringert. Diese Überkapazitäten verschärfen zudem die internationalen Handelskonflikte. Chinesische Produkte, insbesondere Elektroautos, stehen bereits unter Beschuss, da sie als subventionierte Konkurrenz gelten, was zu Strafzöllen und weiteren Handelsstreitigkeiten führt. Die Gefahr besteht, dass China durch die Förderung von Überkapazitäten seine internationalen Beziehungen weiter belastet und langfristige strukturelle Probleme vertieft.
Langfristige Reformen oder kurzfristige Lösungen? Chinas Dilemma
Die jüngsten wirtschaftlichen Maßnahmen Chinas zeigen, dass die Regierung trotz kurzfristiger Erfolge nicht in der Lage ist, die strukturellen Probleme nachhaltig zu lösen. Die Panikreaktionen in Peking und die Rückkehr zu alten Lösungen verschärfen die Herausforderungen weiter. Das BIP des dritten Quartals mag mit 4,6 % leicht über den Erwartungen liegen, doch diese Zahl verdeckt die tieferliegenden Probleme. Um ein wirklich nachhaltiges Wachstum zu erzielen und das Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen, braucht China tiefgreifende und langfristige Reformen, die die strukturellen Defizite der Wirtschaft anpacken. Solange die Führung am alten Kurs festhält, wird der notwendige Anpassungsdruck immer größer. Gleichzeitig steht China in den nächsten Jahren vor einem weiteren schwerwiegenden Problem – der massiven Bevölkerungsabnahme mit all den damit verbundenen Folgen.
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