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Das Erdbeben an den Börsen: Was steckt dahinter?

Gastkommentar von Ernst Wolff

In den vergangenen Tagen wurde Geschichte geschrieben. In über 20 Ländern brachen die Aktienkurse oder die Währungskurse gleichzeitig ein. Chinas Börse bebte ein ums andere Mal, ohne dass die Notmaßnahmen der Regierung in Beijing Wirkung zeigten. Der Dow Jones erlebte am Montag mit über 1.000 Punkten den größten Absturz seiner Geschichte. Innerhalb von 14 Tagen wurden weltweit mehr als 5 Billionen US-Dollar an Aktienwerten vernichtet.

Die Mainstream-Medien schwankten zwischen verkaufsfördernder Panikmache und systemstabilisierender Beschwichtigung. Auf die Bevölkerung stürzte eine wahre Flut widersprüchlicher Informationen ein, die es dem Laien unmöglich machten, sich ein klares Bild von der Situation zu verschaffen.

Inzwischen haben sich die Kurse in den fortgeschrittenen Industrieländern leicht erholt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben die Zentralbanken hinter den Kulissen im großen Stil eingegriffen und das Problem damit nicht aus der Welt geschafft, sondern nur aufgeschoben und so langfristig ein weiteres Mal verschlimmert.

Trotz der vorübergehenden Beruhigung der Lage brennen jedem arbeitenden Menschen zahlreiche Fragen unter den Nägeln: Was hat zu dem Börsenbeben geführt? Wie gefährlich war es? Kann es sich wiederholen und Folgen wie die große Depression in den Dreißiger Jahren haben? Sind Millionen von Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger bedroht?

Was zur gegenwärtigen Situation geführt hat

Zwischen den Siebziger Jahren und der Jahrtausendwende ist das globale Finanzsystem weltweit „dereguliert“ worden. D.h.: Die Politik hat großen Finanzinstitutionen zunehmend Zugeständnisse gemacht und ihnen bis dahin bestehende Hindernisse aus dem Weg geräumt. Das hat dazu geführt, dass immer mehr reine Finanzprodukte erfunden wurden und immer mehr Geld in den Finanzsektor geflossen ist.

1998 kam es zu einer ersten systembedrohenden Krise, als der Hedgefonds Long Term Capital Management zusammenbrach und eines dieser Finanzprodukte, nämlich die Kreditausfallversicherungen, in riesigem Umfang fällig wurde. Um den Zusammenbruch des gesamten Systems (und ihr eigenes damit verbundenes Ende) abzuwenden, schlossen sich mehrere Wallstreet-Banken zusammen und retteten den Hedgefonds.

Trotz der Alarmsignale zog die Politik aus dem Notfall keine Konsequenzen, sondern erlaubte der Finanzwirtschaft sogar eine Ausweitung ihrer Geschäfte. 2008 kam es zur nächsten systembedrohenden Krise, als der amerikanische Häusermarkt zusammenbrach und ungedeckte Kredite Banken in aller Welt in den Abgrund zu reißen drohten. Diesmal waren die zur Rettung des Systems erforderlichen Summen so groß, dass die Regierungen mittels der Zentralbanken eingriffen und die Finanzinstitutionen unter dem Vorwand, sie seien „too big to fail“, mit dem Geld der Steuerzahler retteten.

Durch diese Abwälzung privater Verluste auf die Allgemeinheit wurden riesige Löcher in die Staatshaushalte gerissen. Um diese wieder zu füllen, wurden unter dem Schlagwort der „Austerität“ Sparprogramme aufgelegt, mit denen die arbeitenden Menschen für die Verfehlungen der Finanzindustrie zur Ader gelassen wurden. Da die Mehrzahl der Menschen den Gürtel enger schnallen musste, also weniger konsumiert wurde, ging die wirtschaftliche Nachfrage weltweit zurück.

Die Regierungen reagierten, indem sie die Zentralbanken anwiesen, Geld zu drucken, um es zu Niedrigzinsen an die Finanzwirtschaft zu verleihen. Diese sollte es dann in den Wirtschaftskreislauf einspeisen und so die Wirtschaft wieder in Gang bringen.

Das aber geschah nicht, und zwar aus einem einfachen Grund: Durch die Einstufung als „too big to fail“ hatte die Finanzindustrie einen Freibrief erhalten, der ihr erlaubte, fast risikolos auf die viel lukrativere Spekulation an den Finanzmärkten zu setzen, anstatt in die Infrastruktur oder die industrielle Produktion zu investieren. Auf diese Weise wanderte der größte Teil des frisch gedruckten Geldes (allein in den USA waren es viereinhalb Billionen Dollar) in den Finanzsektor und blies ihn noch weiter auf.

Das Ergebnis: Der Umfang der Derivate (spekulative Finanzprodukte, die mit der Realwirtschaft nichts zu tun haben) ist heute um 20 Prozent größer als 2008. Außerdem haben sich an den Aktienbörsen, auf den Anleihemärkten und im Immobiliensektor größere Blasen als 2008 gebildet. Das größte Problem aber ist die globale Verschuldung, die mit etwa 200 Billionen Dollar einen historischen Höchststand erreicht hat.

Das Problem dieser Verschuldung liegt vor allem darin, dass zur Rückzahlung von Zins und Zinseszins – sowohl im privatwirtschaftlichen wie auch im staatlichen Bereich – ein Wachstum der Wirtschaft und eine relativ hohe Inflation notwendig sind. (Wenn das allgemeine Preisniveau steigt, fällt entsprechend der Wert der Schulden). Sollte es – wie seit 2008 – zu Stagnation oder gar zur Rezession kommen, so tritt eine Deflation (ein Sinken der Preise und damit der Steuereinnahmen) ein, was den Wert der Schulden in Relation zum allgemeinen Preisniveau erhöht und die Rückzahlung der Schulden erschwert oder ganz unmöglich macht.

Keine Korrektur, sondern erste Anzeichen des kommenden Finanz-Tsunamis

Auslöser für die Beben an den Börsen waren mehrere aufeinander folgende Einbrüche der chinesischen Börse. Deren Kurse hatten in den vergangenen Monaten immer neue Rekordstände erreicht. Deshalb behaupteten viele Kommentatoren, es handle es sich nur eine „notwendige Korrektur“. Das aber ist falsch.

Chinas Wachstum der vergangenen Jahre ist mit einer Explosion des Schattenbankensektors und ebenfalls mit einer Rekordverschuldung einhergegangen. Chinas Problem ähnelt dem der westlichen Länder: Es braucht unbedingt wirtschaftliches Wachstum und Inflation, aber in viel höherem Maße als der Westen. Da die globale Nachfrage derzeit rückläufig ist, hat China einen Wendepunkt erreicht, der von sinkenden Preisen und deflationären Tendenzen gekennzeichnet ist und sich zurzeit auf dem Aktienmarkt niederschlägt. (Die Verzweiflung der chinesischen Regierung lässt sich daran ablesen, dass sie zunächst selbst mit Milliarden in den Markt eingegriffen und dann sogar den Rentenfonds erlaubt hat, 30 Prozent ihres Geldes in den Aktienmarkt zu investieren. Wie ernst die Situation ist, lässt sich daraus ersehen, dass beide Maßnahmen wirkungslos verpufft sind.)

Die Probleme an den globalen Aktienmärkten sind allerdings nur ein sichtbarer Indikator der viel tiefer liegenden Probleme der Weltwirtschaft. Diese leidet, wie wir gesehen haben, zurzeit an drei schweren Krankheiten: Zum ersten an der Austeritätspolitik, die ein Wachstum durch steigende Nachfrage verhindert. Zum zweiten daran, dass die Finanzindustrie wegen ihrer Einstufung als „too big to fail“ nicht bereit ist, in die Realwirtschaft zu investieren, sondern sich lieber weiter in parasitärer Weise am Casino des Finanzkapitalismus beteiligt. Zum dritten aber leidet sie an einer außer Kontrolle geratenen allgemeinen Verschuldung, die durch kein bekanntes Mittel mehr in den Griff zu bekommen ist.

Wo stehen wir also?

Um den gegenwärtigen globalen Schuldenberg von etwa 200 Billionen US-Dollar abzutragen, müsste die Wirtschaft weltweit einen nie gekannten Aufschwung erleben. Nachfrage und Produktion müssten wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders durchstarten, die Preise mit sich reißen und so eine hohe Inflation erzeugen, die die Rückzahlung der Schulden im großen Stil ermöglicht. Da aber durch die Austeritätspolitik keine Nachfrage und durch den Abfluss des frisch gedruckten Geldes in die Finanzspekulation gar kein Wachstum geschaffen werden kann, wird mit Sicherheit das Gegenteil eintreten: Die Schulden werden weiter wachsen.

Die einzige Lösung des Grundproblems bestünde darin, die Austeritätspolitik zu beenden, einen globalen Schuldenschnitt von nie dagewesenem Ausmaß vorzunehmen und die Spekulation an den Finanzmärkten rigoros zu unterbinden. Das aber ist unmöglich: Der Finanzsektor ist inzwischen zehnmal so groß wie die globale Realwirtschaft und damit unendlich viel mächtiger als die Politik. Die von der Wallstreet und der City of London aus gesteuerte Finanzindustrie ist ohne Probleme in der Lage, jedes Land, das ihr auch nur die kleinsten Hindernisse in den Weg legt, umgehend in die Knie zu zwingen – siehe Griechenland.

Was wir derzeit erleben, ist der Auftakt zu einem überschuldungsgetriebenen Finanz-Tsunami, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Einzig und allein global koordinierte Maßnahmen könnten die bevorstehende und unabwendbare Kernschmelze im Kreditsektor verhindern, sind aber auf Grund der Aufsplitterung der Welt in einzelne Staaten mit unterschiedlichen Interessen und der deswegen national beschränkten politischen Strategien ihrer Regierungen derzeit nicht im Bereich des Möglichen.

Wir befinden uns in einer ähnlichen Situation wie die Einwohner Kaliforniens, die seit langem auf das ganz große Erdbeben („The big one“) warten. Niemand kann seinen Eintrittszeitpunkt exakt vorhersagen und es ist gut möglich, dass es noch zu einigen weiteren Vorbeben kommt. Aber der Eintritt des Ereignisses selbst steht außer Frage.



Ernst Wolff ist Journalist und Autor des Buches „Weltmacht IWF – Chronik eines Raubzuges, erschienen im Tectum-Verlag, Marburg.



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1 Kommentar

  1. Ein großartiger, ein must read Artikel! Vielen Dank für Ihr Engagement, an Sie, Herr Wolff, und das Finanzmarktwelt-Team! Sie beide sind eine echte Bereicherung in dieser trüben Medienlandschaft! Ich habe auch Ihr Buch gelesen. Sehr gut! Kann ich nur empfehlen.

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