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Der Brexit kommt für Großbritannien zur Unzeit

Boris Johnson-Karrikatur bei einer Anti Brexit Demo

Kurz vor dem Erreichen des Peaks eines lang anhaltenden, wirtschaftlichen Aufschwungs beschließen die britischen Bürger, die EU zu verlassen. Erfüllt wird dieser Wunsch ziemlich genau am Peak eines elfjährigen Wirtschaftsbooms. Die Probleme, die sich Großbritannien mit dem Brexit einhandelte, potenzieren sich in den kommenden Monaten. Denn an Handelsgespräche dürfte jetzt unter dem Zeichen des Coronavirus in der EU kaum ein Politiker denken, womit Großbritannien in neun Monaten ohne Handelsabkommen mitten in einer Wirtschaftskrise aus dem gemeinsamen Wirtschaftsraum fliegen könnte und dann feststellen müsste, dass die eigene Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig ist. (Frankfurt profitiert bislang nicht wie erhofft vom EU-Austritt der Briten)

Großbritannien erfüllt Brexit-Versprechen jetzt erst einmal auf Pump

Aus der EU trat das Vereinigte Königreich bereits am 31. Januar 2020 aus. Die Folgen bemerkt bis heute keiner, weil bis zum Jahresende erst einmal (fast) alles beim Alten bleibt. Erst Anfang 2021 tritt auch der Austritt aus dem gemeinsamen Wirtschaftsraum in Kraft. Erkauft hatten sich die Brexit-Anhänger die Zustimmung des Volkes auch mit dem Versprechen, die staatlichen Investitionen nach dem Brexit massiv auszuweiten. Warum man damit bis nach dem Brexit warten sollte, der nur ein paar Milliarden Pfund pro Jahr einspart, weiß wohl niemand so genau. Aber so lautete das Versprechen. Allein im kommenden Haushaltsjahr, das im April beginnt, will Großbritannien die staatlichen Ausgaben um 30 Milliarden Pfund erhöhen. Zum Vergleich: Netto, also Abgaben abzüglich der von der EU ausgezahlten Zuschüsse, zahlte Großbritannien 2018 lediglich knapp 6 Milliarden Pfund in den EU-Haushalt ein. Die zusätzlichen Investitionen hätte Großbritannien also auch als EU-Mitglied stemmen können. Wahrscheinlich hätte es dafür sogar üppige Zuschüsse aus der EU gegeben, da Großbritannien jetzt in Infrastruktur in strukturschwache Regionen investieren will. Und das ist schließlich eines der Steckenpferde der EU-Subventionspolitik.

Mit den 30 Milliarden Pfund plant Großbritannien die größte Ausgabenerhöhung seit 20 Jahren ein – von der Bankenrettung während der Finanzkrise einmal abgesehen. Das Problem dabei: Großbritanniens Staatshaushalt ist bereits jetzt chronisch defizitär. Das Defizit beläuft sich im aktuellen Haushaltsjahr auf 41 Milliarden Pfund. Mit den geplanten Ausgabenerhöhungen, noch ohne Berücksichtigung einer möglichen Rezession mit fallenden Einnahmen, würde sich das Defizit somit auf 71 Milliarden Pfund oder 3,3% des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Das ist freilich nichts gegen die 10,2% Defizit, die das Land 2010 hatte, als Banken gerettet werden mussten und die Wirtschaft in der Krise einbrach.

Einsparungen führten wahrscheinlich erst zum Brexit-Votum

Die Einsparungen, die Vorgängerregierungen seit 2010 vornahmen, um das Defizit in den Griff zu bekommen, dürften mit ursächlich gewesen sein für das Brexit-Votum gerade der abgehängten Regionen. Dort, wo die Lebenserwartungen zurückgeht, statt wie in anderen entwickelten Ländern zu steigen. Dort, wo die Kriminalität steigt, weil bei Polizei und Sozialprogrammen gespart wurde. Dort wurde auch mehrheitlich für den Brexit gestimmt.

Nicht zuletzt dank der weltweiten Zinskrise kann sich Großbritannien Defizite derzeit (!) leisten. Genauso wie in den USA, Japan und dem Rest Europas sind die Zinsen für Staatsanleihen des Vereinigten Königreichs im freien Fall. 50-jährige Staatsanleihen kosten derzeit nur noch 0,54% Zinsen pro Jahr. Doch die Wahrheit ist, dass die Nachfrage nach solch lang laufenden Anleihen sehr gering ist. Die meisten Marktteilnehmer bevorzugen deutlich kürzer laufende Anleihen. Zehn Jahre stellen oft schon das Maximum dar. Die Zinsen liegen bei zehnjährigen Anleihen zwar sogar nur bei 0,23%. Doch nach zehn Jahren muss das Land die dann fälligen Schulden mit neuen Anleihen refinanzieren. Liegen die Zinsen dann höher, kann das schnell teuer werden. Stiegen die Zinsen dann auf 4%, historisch gesehen immer noch ein niedriges Niveau, würden sich die Zinskosten fast verzwanzigfachen. Und dass Großbritannien dank brexit-induziertem Wirtschaftsboom in der Lage wäre, die jetzt aufgenommenen Kredite im Laufe der Zeit abzubezahlen, glaubt wohl kaum jemand.

Großbritanniens Produktivität schrumpft – auch ohne Brexit und Coronavirus

Denn um die Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens ist es schlecht bestellt. Die Produktivität der Wirtschaft sinkt sogar. Im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre im 0,17% pro Jahr. Das klingt nicht dramatisch. Und ist doch der tiefste Stand seit 1908. Das ist kein auf Großbritannien beschränkter Trend. Auch in den USA und vielen Staaten der EU ist die Produktivität seit der Finanzkrise gesunken. In und nach der Finanzkrise wurde zwar mehr gearbeitet, aber dabei unproportional wenig zusätzliche Waren und Dienstleistungen erzeugt. Ursächlich dafür ist auch die Investitionsschwäche der Unternehmen. Die investierten lieber in Dividenden und Aktienrückkäufe, statt in neue, modernere Machinen, die die Arbeitsproduktivität erhöht hätten.

Besonders drastisch ist das Problem in Großbritannien. Schon vor dem Brexit haperte es mit der Produktivität. Während McKinsey in Spanien, Italien, Frankreich, Deutschland und Schweden stets wenigstens zwei Wirtschaftssektoren mit stark gestiegener Produktivität fanden, deren Wachstum jedoch von Produktivitätsrückgang in anderen Sektoren kompensiert wurde, gab es in Großbritannien ausschließlich Sektoren mit fallender oder stagnierender Produktivität. Noch schlimmer sah es lediglich in den USA aus.

Nach dem Brexit wird sich das Problem noch verschärfen. Denn wenn Unternehmen vor dem Brexit nicht in Produktivität investierten, dann werden sie es nach dem Brexit erst recht nicht tun. Es ist für Unternehmen viel attraktiver, in Standorte in der EU, den USA oder Asien zu investieren, statt in Großbritannien, das sich gerade selbst vom zweitgrößten Markt der Welt abschnitt und kaum Freihandelsabkommen vorweisen kann.

In Großbritannien zu produzieren, ist teuer geworden

Jüngere Daten liegen leider nicht vor. Doch schon zwischen 1995 und 2010 zeigte das Vereinigte Königreich stark steigende Lohnstückkosten. Sie stiegen um 40%, während die Lohnstückkosten Japans im gleichen zeitraum um 37% zurückgingen. Im Durchschnitt der G7-Staaten war immerhin noch ein Rückgang um 8%. Mit anderen Worten: Um eine Wareneinheit zu produzieren, mussten Unternehmen in Großbritannien nach 15 Jahren 40% mehr für Löhne ausgeben. Mit sinkender Produktivität könnte der Trend nur umgekehrt werden, wenn auch die Löhne sinken, was sich die Briten sicherlich nicht als auf den Brexit folgende Wohltat vorstellen.

Bestes Beispiel für die Folgen der Produktivitäts- und Brexit-Entwicklung ist Nissan. Die betreiben seit 1986 ein Werk in Großbritannien, das bisher den europäischen Markt belieferte. Damit wird es ohne Freihandelsabkommen ab 2021 wahrscheinlich weitgehend vorbei sein. Denn am 1. Februar 2019 trat ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan in Kraft, das die Zölle für Auto-Importe aus Japan bis 2026 auf 0% absinken lässt. Auto-Importe aus Großbritannien werden hingegen ab 2021 10% kosten. Dazu kommt das Produktivitätswachstum, bzw. dessen Negativwachstum in Großbritannien. Wenn die Lohnstückkosten in Japan in 15 Jahren um 37% schrumpften und in Großbritannien um 40% stiegen, dann kostete schon 2010 ein britisches Auto Nissan 140% und ein japanisches nur 63% der 1995 kalkulierten Kosten.

Nissan zog daher den Schluss, Produktion von Großbritannien nach Japan zu verlegen und die Autos von dort in die EU zu importieren. Es mangelt in Großbritannien also bereits an der Basis, die nachhaltige, größere staatliche Investitionen überhaupt erst ermöglichen würden. Mit schrumpfender Produktivität ist es unwahrscheinlich, dass Großbritannien aus dem Handelsdefizit herauswachsen oder eine wirtschaftliche Aktivität entfalten könnte, die jetzt auf Kredit durchgeführte Investitionen amortisieren würde.

Daher werden schon jetzt Möglichkeiten gesucht, die zusätzlichen Ausgaben mit Kürzungen bzw. Steuererhöhungen an anderer Stelle zu kompensieren. Vorgeschlagen wurde zum Beispiel die Einschränkung von Steuerbefreiungen für in Pensionspläne eingezahlte Löhne, die allein pro Jahr 40 Milliarden Pfund ausmachen. Problem dabei: Johnson versprach auch besserverdienenden Steuersenkungen und nicht Steuererhöhungen.

Mit dem Coronavirus werden Großbritanniens Probleme nur noch schlimmer. Nicht nur, dass die Nachfrage einbrechen und die Kosten für den Staat steigen werden. Der Fokus von Politik und Verwaltung wird auch abrücken vom Brexit, der Verhandlung neuer Handelsabkommen und Projekten, die die Folgen des Brexits lindern hin zur Seucheneindämmung und der Bekämpfung einer Rezession. Einen unpassenderen Zeitpunkt für den Brexit hätte sich das Land kaum aussuchen können.



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