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Reformen? Fehlanzeige. Deutschland: Sozialstaat wird zum politischen Schlachtfeld

Deutschland: Sozialstaat wird zum politischen Schlachtfeld
Grafik: ChatGPT

Deutschlands Suche nach einem Ausweg aus der wirtschaftlichen Stagnation stößt auf eine unbequeme Wahrheit: Der wachsende Sozialstaat ist längst Teil des Problems. Während die Sozialbeiträge steigen und Unternehmen wie Beschäftigte gleichermaßen belasten, wächst der Druck auf die Politik, endlich Reformen zu wagen. Doch zwischen dem Anspruch sozialer Sicherheit und der Realität einer überforderten Wirtschaft stellt sich die Frage: Wie viel Sozialstaat kann sich Deutschland noch leisten, ohne seine Zukunft zu verspielen?

Deutschland: Sozialstaat unter Druck

Nach der Aufweichung der Schuldenbremse und einer massiven Aufrüstung rückt nun eine neue Streitfrage in den Mittelpunkt der Koalition von Kanzler Friedrich Merz: Wie lassen sich die stetig steigenden Sozialausgaben und ihre Belastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer eindämmen?

Das Thema ist hochemotional. Seit Bismarcks Zeiten gilt soziale Sicherheit als Kernaufgabe des Staates.

Deutschland als Sozialstaat: Deutsche Sozialabgaben steigen stark ohne Reform

Die Herausforderung für Berlin besteht nicht nur darin, dass eine schnell alternde Gesellschaft die Kosten für Renten, Gesundheitsversorgung und andere Sozialleistungen finanziell untragbar macht. Diese Situation hält auch Unternehmen davon ab, sich in Europas größter Volkswirtschaft anzusiedeln oder dort zu expandieren, gerade jetzt, wo das Land darum kämpft, zwei miserable Rezessionsjahre hinter sich zu lassen.

“Wenn man sich überlegt, wo will man investieren, wo sind dynamische Märkte, dann kommt man vielleicht nicht auf den ersten Blick auf Deutschland”, sagte Andreas Peichl, Ökonom am Ifo-Institut in München. “Hier ist nicht alles schlecht. Aber es ist in der Tat so die Erwartung, dass perspektivisch die Steuern steigen müssen, wenn es jetzt keine Reformen gibt und da wird man sich das sicherlich gut überlegen.”

Auch andere Länder kämpfen mit ähnlichen Fragen. Großbritannien erlebte einen Aufschrei der Wirtschaft, als Finanzministerin Rachel Reeves die Lohnnebenkosten erhöhte. In Frankreich entzündeten sich heftige Proteste an der Rentenreform.

Sozialstaat wächst schnell - Reformen der Regieren bleiben aus

Steigende Sozialabgaben

Doch Deutschlands Verpflichtungen stechen heraus: Rund ein Viertel des Bundeshaushalts fließt in Renten, die gesamten Sozialausgaben stiegen 2024 auf 1,3 Billionen Euro, rund 31% des BIP — den höchsten Anteil seit mindestens 1960, abgesehen von den Pandemie-Jahren.

Diese Entwicklung hat die Abgabenlast auf den zweithöchsten Wert in der OECD gehoben. Ohne Reformen könnten die Sozialbeiträge laut Regierungsberater Martin Werding bis 2050 auf fast 53% des Bruttolohns steigen — nach etwa 40% im Jahr 2022.

Sozialstaat Deutschland: Sozialbeiträge steigen schneller als Wirtschaftswachstum

Unternehmen schlagen Alarm

Unternehmen schlagen Alarm. Hohe Arbeitskosten waren ein Grund, warum der Autozulieferer Bosch jüngst den Abbau von 13.000 Stellen ankündigte. “Deutschland ist und bleibt für Bosch zentral, auch was die Anzahl der Mitarbeitenden anbetrifft. Allerdings müssen wir uns effizienter aufstellen, um uns im hart umkämpften weltweiten Wettbewerb behaupten zu können”, sagte Geschäftsführer und Arbeitsdirektor Stefan Grosch.

Auch der Arbeitgeberverband Gesamtmetall warnte in dieser Woche vor steigenden Sozialabgaben — es brenne “an allen Ecken und Enden”, da würden keine “bunten Pflaster” helfen. Im Wettbewerbsranking der IMD Business School belegte Deutschland zuletzt den 19. Platz. Hohe Sozialkosten werden dort ausdrücklich als Standortnachteil genannt.

Angesichts des globalen Wettbewerbs wären höhere Sozialbeiträge “pures Gift für die Konjunktur, aber auch für die mittel bis langfristigen Investitionsentscheidungen von Unternehmen”, sagte Nicolas Ziebarth, Ökonom am ZEW-Institut in Mannheim.

Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute warnten im vergangenen Monat, eine konjunkturelle Erholung in den kommenden zwei Jahren könne nur von kurzer Dauer sein, wenn finanzpolitische Großzügigkeit die strukturellen Probleme überdecke. Als eine wichtige Maßnahme nannten sie die Stabilisierung der Sozialbeiträge.

Frontlinien

Die Stabilisierung der Sozialbeiträge ist politisch heikel. Als Union und SPD ihre Koalition bildeten, einigten sie sich zwar auf mehr Effizienz im Sozialstaat — jedoch unter der Maßgabe: “Das soziale Schutzniveau wollen wir bewahren”.

Ein Schlagabtausch zwischen Merz und Arbeitsministerin Bärbel Bas machte die Spannungen sichtbar. Merz erklärte im August, “der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.” Bas entgegnete, das sei “Bullshit.”

Immerhin brachte die Koalition erste Reformen auf den Weg: Arbeitslose sollen künftig weniger Leistungen erhalten, wenn sie Termine in Jobcentern versäumen — ein Zugeständnis an konservative Kritiker, die den Sozialstaat für zu großzügig halten, besonders gegenüber Migranten.

Für Finanzminister und SPD-Chef Lars Klingbeil steht viel auf dem Spiel. Seine Partei bekennt sich zwar dazu, Anreize für Arbeitslose zu schaffen, eine Stelle anzunehmen, doch viele Sozialdemokraten erinnern sich schmerzhaft an die Hartz-Reformen von 2005, die das Vertrauen der Basis erschütterten. Auch die schrittweise Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre war einst höchst unpopulär.

Herbst der Reformen

Klingbeils Wirtschaftsberater Jens Südekum mahnt, der angekündigte „Herbst der Reform“ dürfe nicht nur Kürzungen bringen. Entscheidend sei, dass die geplanten Infrastrukturausgaben tatsächlich in Investitionen fließen — durch weniger Bürokratie und schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren.

“Wir müssen aus der wirtschaftlichen Schwäche herauswachsen”, sagte er in einem Interview. “Dann haben wir auch eine bessere Lage in den Sozialsystemen.”

Einige kleinere Anpassungen sind bereits beschlossen: Wer über das Rentenalter hinaus arbeitet, darf künftig bis zu 2.000 Euro steuerfrei hinzuverdienen. Kinder zwischen sechs und 18 Jahren erhalten monatlich zehn Euro auf ein staatlich gefördertes Anlagekonto.

Weitergehende Vorschläge — etwa die Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung nach dänischem Vorbild — liegen auf Eis.

Zeit vergeht, Probleme wachsen

Trotz der Mahnungen von Ökonomen zu tiefgreifenden Reformen zeigt die Regierung wenig Eile. Eine eingesetzte Kommission soll erst Ende kommenden Jahres Vorschläge vorlegen.

“Die Stimmung ist auch so schlecht bei Bürgern und der Wirtschaft, weil man das Gefühl hat, es wird sehr viel angekündigt, aber nicht das Gefühl da ist, dass das schon mit klaren Konzepten und einer Gesamtstrategie unterlegt ist”, sagte ZEW-Ökonom Ziebarth. Eigentlich sollte die Botschaft lauten, “wir brauchen jetzt eine Reformagenda, damit wir gut über diesen Babyboomer-Verrentungs Demographieschub kommen und die Sozialbeiträge stabil bleiben.”

Kanzler Merz versucht unterdessen, die Bevölkerung auf Kurs zu bringen. “Vieles muss sich ändern, wenn vieles so gut bleiben oder gar besser werden soll, wie es in unserem Land bisher ist”, sagte er am 3. Oktober.

Doch die Herausforderungen bleiben gewaltig – von US-Protektionismus über den Wettbewerb mit China bis hin zu steigenden Verteidigungsausgaben.

“Die Sozialausgaben in Deutschland steigen seit Jahren stärker als das Wirtschaftswachstum”, sagte Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats, der die Regierung in Wirtschaftsfragen berät. “Lange haben wir das über die Friedensdividende finanziert. Das funktioniert nicht mehr. Jetzt finanzieren wir sie über Schulden, und das geht nicht lange gut.”

FMW/Bloomberg



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11 Kommentare

  1. bitte wer braucht einen sozialstaat?
    wenn man in der lebensplanung rechtzeitig sein augenmerk auf autonomie, unabhängigkeit und seinen vermögensaufbau nicht in sichtvermögen hinterlegt, braucht man auch keinen sozialstaat,
    von dem man in irgendeiner form gegängelt wird,
    sei es durch abgepresste leistungen in der erwerbszeit, inflation, lastenausgleich, erpressung/stille enteignung durch auflagen, steuern oder vorschriften zum bestandserhalt z.b. einer immobilie.
    wenn ich im z.b. rentenalter noch auf eine pension oder rente angewiesen bin oder sichtvermögen besitze,
    habe ich was grundlegend falsch gemacht.
    siehe die üblichen mietmäuler, systemknechte und regimeclaqueure, die auf einen sozialstaat angwiesen sind.
    ist wie bei der mafia, sie tut dir einmal einen gefallen, aber irgendwann erinnern sie dich daran, auch wenn du es schon längst vergessen hast

    1. Zitat: (Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats, der die Regierung in Wirtschaftsfragen berät. “Lange haben wir das über die Friedensdividende finanziert. Das funktioniert nicht mehr.“)
      Das Problem ist daß wir m.M.n. einen Mangel an sachverständigen VWLer haben. Also Klartext: Das BIP (D) beträgt ca. 4330 Mrd, davon werden gut 6% über Bilanzüberschüsse vom Ausland finanziert. Also nix Friedensdividende. Hauptsächlich die Industrie produziert die Überschüsse und letztere sind weder Naturgesetz sind noch ewig tragbar. Fallen also die Bilanzüberschüsse auf 0, so ergibt sich ein Schrumpfungspotential von ca. 20% (Faktor 3, Industrie hat 1/3 des BIP). Der Rest des BIP muss/wird folgen, wenn die staatliche Nachfrage über Schulden ausläuft. Wachsen könnten wir über Importe, aber die gesamt Politik will ja die Klimaneutralität, sprich Energieautarkie. Damit erdrücken wir den profitabelsten Sektor und ersetzen ihn durch einen weniger profitablen. Der Wohlstand muss/wird dann sinken. Reformen nützen da gar nichts, denn die verschieben nur das Geld innerhalb der 80%. Mit Sozialstaat hat das nichts zu tun, der ist weder Grund noch die Lösung für die Misere.

    2. @robert schwachkopf

      Ja, wozu brauchen wir einen Sozialstaat? Vielleicht, weil Bismarck schon erkannt hat, dass in Slums extreme politische Bewegungen wie der Kommunismus – und später der Nationalsozialismus – besonders fruchtbaren Boden finden.

      Und dann kommt natürlich das Märchen vom bösen Staat. Ja, stellen wir uns einen Staat vor, in dem es keine Straßen, keine Brücken gibt, wo nur die Reichen sich vernünftige Schulen leisten können und der Geldbeutel darüber entscheidet, wer ins Krankenhaus darf. In den USA ist dies der häufigste Grund für Privatinsolvenzen.

      Wer sich „Schwachkopf“ nennt, zeigt immerhin erste Anzeichen von Selbsterkenntnis. Dein Kommentar verrät, wie hoch deine Angst ist, selbst einmal auf Unterstützung angewiesen zu sein. Vielleicht ausgelöst durch eine Wirtschaftskrise, verursacht von einem Handelskrieg zwischen den USA und China. Oder durch einen Sturzbach, der dein sorgfältig aufgebautes Vermögen wegschwemmt. Keine Sorge, Robert Schwachkopf – du kannst weiterhin so tun, als ließe sich all das durch Willenskraft abwenden.

      Aber Hauptsache, du darfst frei entscheiden, arm zu sein.

      1. robert h. schwachkopf

        @
        ganz ehrlich,
        wenn man die rentenzahlungen einstellen würde, warum auch immer, wäre es mir absolut egal.
        millionen anderen aber sicher nicht, da es nicht so viele pfandflaschen gibt.

    3. @Schwachkopf
      Was für eine herablassende Überheblichkeit, die Sie schon wieder an den Tag legen!
      Ich denke nicht, dass Bauarbeiter, Müllmänner, Reinigungskräfte, Küchenhilfen oder alleinerziehende Pflegerinnen während ihres prekären Lebens die Zeit, Energie und Expertise für eine autonome Lebensplanung aufbringen können.

      Ein Teil davon ist nämlich unter schweren körperlichen Anstrengungen voll und ganz damit beschäftigt, die Seniorenresidenz zu bauen und in Schuss zu halten, in der unabhängige Leistungsträger wie Sie dereinst sabbernd am Rollator geistern werden, während Ihnen der andere Teil Erbsensuppe und Kartoffelbrei zubereitet und in die zahnlose Mundhöhle einflößt, Sie in die Badewanne hievt, sich um Ihre Körperhygiene kümmert oder Ihre Windeln und den weiteren Müll entsorgt.

      1. Schwachkopf hat schon Recht, stecke die Kohle für die Rentenbeiträge in einen guten ETF über 40 Jahre oder mehr und man ist im Rentenalter unabhängig vom Staat. Doch das ist nicht gewollt. Man soll abhängig bleiben: erst als Lohnsklave dann als Rentensklave.
        Daher auch keine Finanzbildung in der Schule. Im Finanzbereich sollen wir schön Doof gehalten werden um ja nicht ausbrechen zu können.

        1. robert h. schwachkopf

          @retniw
          ja, abnabelung und eigenverantwortung machen angst und lähmen ein leben.
          am anfang an der mutterzitze, später an die staatszitze, mehr braucht die schafskohorte nicht.
          vielleicht noch eine bratwurst als extraleckerli dann und wann.
          mein nick ist eine ehrfürchtige verneigung vor dem grossen staatsmann und wirtschaftsschlencker mit der neuen insolvenz, falls es manchen schwerfälligen das noch nicht aufgefallen sein sollte

        2. Retniw
          Wer seine Rentenbeiträge schon im Lohnbüro abgezogen bekommt, kann natürlich nichts machen.
          Wer dann aber seine private Rentenversicherung in Riester, Lebensversicherungen, Rentenfonds usw. steckt, kann den Knall nicht gehört haben.
          Dass das Rentensystem ein Schneballsystem ist, konnte jeder schon etwa 1980 erkennen.
          Also- jetzt nicht jammern.

          Viele Grüße aus Andalusien Helmut

    4. Groß und Kleinschreibung sollte einem gebildeten Menschen nicht schwer fallen.

  2. Wenn mal alle die Menschen nur Sozialleistungen erhalten würden, die dauerhaft krank sind oder vorher auch in das Sozialsystem eingezahlt haben, sähe es anders aus.
    Selbst EU- Angehörige, erhalten erst nach 5 Jahren in Spanien eine endgültiges Aufenthaltsrecht.
    In der Zeit müssen sie dann beweisen, dass sie sich und die Familie versorgen können.
    Sonst gibt es keine Daueraufenthaltsgenehmigung.
    Allso auch keine Sozialleistungen..
    Danach treten ggf. die nachfolgenden Fristen in Kraft.

    …Für die Grundsicherung wird eine Mindestaufenthaltsdauer von drei Jahren und eine Periode der Sozialversicherungspflicht von mindestens einem Jahr gefordert. Für die Rente gelten je nach Land andere Regeln, in Spanien sind oft 15 Jahre Beitragszahlungen erforderlich. Für EU-Bürger, die sich fünf Jahre lang ununterbrochen legal in Spanien aufhalten, besteht die Möglichkeit, eine Daueraufenthaltsgenehmigung zu beantragen…
    Und dabei muss nachgewiesen werden, wieviel Einkommen man hat.

    Viele Grüße aus Andalusien Helmut

  3. Der Sozialstaat ist nicht Ursache der Rezession. Ursache ist die Zinsanhebung.

    Wer über den Sozialstaat schimpft, hat hoffentlich nicht Merkel gewählt und gedacht, alles Nulltarif, alles easy.

    Das angebliche Problem Sozialstaat ist nicht lösbar, hätte man vorher dran denken sollen, also jetzt nicht meckern bitte.

    Geht nur noch mit Schulden jetzt.

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