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Die Fernsehansprache von Tsipras im Wortlaut

Von Markus Fugmann

Was hat Tsipras in seiner Fernsehansprache genau gesagt? Die Griechen sollen über die Forderungen der Institutionen abstimmen, aber nach wie vor bleibt unklar, wie genau die Frage lauten wird. Merkel hat Tsipras gesagt, die Frage könne nur lauten „Euro oder Drachme“, aber so wird die Tsipras-Regierung die Frage nicht formulieren. Unklar ist, ob das von der EU-Kommission an die Öffentlichkkeit gebrachte Papier (siehe dazu unseren Artikel „Gegenoffensive: Europäische Kommission wendet sich an Griechen„) zur Abstimmung kommt, oder ob es um die Frage „Austerität ja oder nein“ gehen wird.

Fernsehansprache des griechischen Ministerpräsidenten Tsipras in der Nacht vom 26. auf
den 27. Juni 2015 mit der Ankündigung eines Referendums zu den Verhandlungen mit den „Institutionen“

Liebe Griechen und Griechinnen,

seit sechs Monaten kämpft die griechische Regierung darum, unter den
Bedingungen eines beispiellosen wirtschaftlichen Würgegriffs, das Mandat
umzusetzen, das ihr uns gegeben habt.
Ihr habt uns den Auftrag gegeben, in Verhandlungen mit unseren europäischen
Partnern die Austeritätspolitik zu beenden, damit Wohlstand und soziale
Gerechtigkeit in unser Land zurückkehren können. Es war ein Mandat für ein
nachhaltiges Abkommen, das sowohl unsere Demokratie als auch die gemeinsamen
europäischen Regeln respektiert und das es uns endlich ermöglicht, die Krise zu
überwinden.
Während der gesamten Phase der Verhandlungen wurde von uns verlangt, dass wir
das von der letzten Regierung akzeptierte Memorandum umsetzen sollen, obwohl
dieses von den Griechinnen und Griechen bei den letzten Wahlen kategorisch
abgelehnt worden war.
Doch nicht eine Minute lang haben wir daran gedacht, uns zu unterwerfen und euer
Vertrauen zu verraten. Nach fünf Monaten harter Verhandlungen haben unsere
PartnerInnen vorgestern schließlich ein Ultimatum an die griechische Demokratie und
die Menschen in Griechenland gerichtet. Ein Ultimatum, welches den Grundwerten
Europas, den Werten unseres gemeinsamen europäischen Projekts widerspricht.
Sie haben von der griechischen Regierung verlangt, einen Vorschlag zu akzeptieren,
der weitere untragbare Lasten für das griechische Volk bedeuten und die Erholung
der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft untergraben würde. Dieser Vorschlag
würde nicht nur den Zustand der Unsicherheit auf Dauer stellen, sondern auch die
soziale Ungleichheit verfestigen.
Der Vorschlag der Institutionen umfasst Maßnahmen zur weiteren Deregulierung des
Arbeitsmarktes, Pensionskürzungen, weitere Gehaltskürzungen im öffentlichen
Dienst und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel sowie in den
Bereichen Gastronomie und Tourismus. Schließlich zählt dazu auch die Abschaffung
der Steuererleichterungen für die griechischen Inseln.

Diese Forderungen verletzen unmittelbar die europäischen Sozial-und Grundrechte.
Sie zeigen, dass einige unserer PartnerInnen nicht ein für alle Seiten tragfähiges und
vorteilhaftes Abkommen für Arbeit, Gleichheit und Würde anstreben – sondern die
Erniedrigung des gesamten griechischen Volks.
Ihre Forderungen zeigen vor allem, dass der Internationale Währungsfonds auf einer
harten, bestrafenden Kürzungspolitik beharrt. Sie zeigen zugleich, dass die
führenden europäischen Kräfte endlich die Initiative ergreifen müssen, um die griechische
Schuldenkrise ein für alle Mal zu beenden. Diese Krise betrifft auch andere europäische
Länder und bedroht die Zukunft der europäischen Integration.

Liebe Griechen und Griechinnen,

die Kämpfe und Opfer des griechischen Volks für die Wiederherstellung von
Demokratie und nationaler Souveränität lasten als historische Verantwortung auf
unseren Schultern. Es ist die Verantwortung für die Zukunft unseres Landes, und
diese verlangt von uns, auf das Ultimatum der PartnerInnen mit dem souveränen
Willen des griechischen Volkes zu antworten.
Vor wenigen Minuten habe ich in der Kabinettssitzung den Vorschlag gemacht, ein
Referendum abzuhalten, damit die Griechen und Griechinnen souverän entscheiden
können. Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Morgen wird das
Parlament zu einer Sondersitzung zusammentreten, um über den Vorschlag des
Kabinetts und ein Referendum am Sonntag, dem 5. Juli, abzustimmen. Die Griechen
und Griechinnen sollen entscheiden können, ob sie die Forderungen der Institutionen annehmen oder ablehnen.
Ich habe bereits den Präsidenten Frankreichs, die Kanzlerin Deutschlands und den
Präsidenten der Europäischen Zentralbank über diesen Schritt informiert. Morgen
werde ich offiziell darum ansuchen, das laufende Programm um einige Tage zu
verlängern, damit das griechische Volk frei von Erpressung und Druck abstimmen
kann, wie es der Verfassung unseres Landes und der demokratischen Tradition
Europas entspricht.

Liebe Griechen und Griechinnen,

ich bitte euch, auf das erpresserische Ultimatum, welches von uns harte,
entwürdigende und endlose Austerität ohne Aussicht auf soziale und wirtschaftliche
Erholung verlangt, auf souveräne und stolze Weise zu antworten – so wie es die
Geschichte des griechischen Volks verlangt.
Auf Autoritarismus und brutale Austerität werden wir, ruhig und bestimmt, mit
Demokratie antworten. Griechenland, der Geburtsort der Demokratie, wird eine
demokratische Antwort geben, die in Europa und der Welt widerhallen wird. Ich
verpflichte mich persönlich, eure demokratische Wahl zu respektieren, wie immer sie
ausfallen wird.
Und ich bin vollkommen überzeugt davon, dass eure Wahl der Geschichte unseres
Landes gerecht werden und der Welt eine Botschaft der Würde senden wird. Wir alle
müssen uns in diesen entscheidenden Momenten vor Augen halten, dass Europa die
gemeinsame Heimat unserer Völker ist. Doch ohne Demokratie wird Europa ein Europa ohne Identität und Orientierung sein.
Ich lade euch alle ein, in nationaler Eintracht und Ruhe, die richtigen Entscheidungen
zu treffen. Für uns, für zukünftige Generationen, für die Geschichte der Griechinnen
und Griechen. Für die Souveränität und Würde unseres Volks.

Anmerkung von FMW: für den Hinweis auf den Text der Ansprache Dank an @KK



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2 Kommentare

  1. Hätte ich nicht gedacht…
    Bei allen politischen Verschwörungstheorien die durch das Internet geistern. Mit einem Politiker der seine Aufgabe im Interesse des eigenen Volkes so vehement verfolgt hätte ich nicht gerechnet. der Druck der Lobbyisten der Finanzindustrie und was weis ich noch, muss enorm sein. Wer so aus der Reihe tanzt, lebt normalerweise nicht lange. Hut ab vor so viel Courage.

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