Es geht weiter nach unten mit den Zinsen – zugleich ist die Inflation noch nicht besiegt. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat im Januar zum fünften Mal seit der geldpolitischen Wende im vergangenen Jahr die Leitzinsen gesenkt. Dass weitere Zinssenkungen folgen werden, gilt als sicher, doch wie weit die Zinsen noch fallen werden, ist eine offene Frage, die bald beantwortet werden könnte. Denn schon bald dürfte die EZB einen wichtigen Hinweis darauf geben, wie weit sie die Zinsen noch senken wird.
Zinsen: EZB mit neuen Hinweisen
Wie Bloomberg berichtet, steht die Europäische Zentralbank kurz davor, eine entscheidende Information in die Debatte über die Zinsentwicklung in der Eurozone einzubringen.
Neue Schätzungen für den neutralen Zinssatz – ein theoretisches Niveau, das die Nachfrage in der Wirtschaft weder einschränkt noch stimuliert – werden am Freitag veröffentlicht. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, sagte, sie und ihre Kollegen würden „auf der Grundlage“ des Berichts arbeiten, um zu bestimmen, „wie unser geldpolitischer Kurs aussehen sollte“.
Die Veröffentlichung erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem die Diskussionen über die Entwicklung der Zinsen nach fünf Senkungen des Einlagensatzes auf 2,75 % zunehmen. Da die Notenbanker davon ausgehen, dass die Inflation in diesem Jahr auf zwei Prozent zusteuert, nachdem sie zuletzt viermal in Folge gestiegen ist, sind sich die Verantwortlichen einig, dass weitere Zinssenkungen notwendig sind, zumal die Wirtschaft in der Region stagniert. Wo genau der „Sweet Spot“ liegt, ist jedoch umstritten.
Während Lagarde selbst die Spanne für eine neutralen Zinssatz auf 1,75% bis 2,25% festgelegt hat, könnten die in dieser Woche veröffentlichten Umfragen mehr Klarheit über die Landezone der EZB bringen. Die Märkte rechnen weiterhin mit mindestens drei Zinssenkungen in diesem Jahr.

Debatte über neutralen Zinssatz
„Die Debatte im EZB-Rat über den neutralen Zinssatz gewinnt an Fahrt“, sagt Cyrus de la Rubia, Chefvolkswirt der Hamburger Handelsbank. „Während das Konzept selbst für die Festlegung der Geldpolitik nur von begrenztem Nutzen ist, kann es gut zur Steuerung von Erwartungen eingesetzt werden, und in dieser Hinsicht werden wir die weitere Entwicklung genau beobachten.“
Vor etwa einem Jahr, als die Inflation zurückging und die EZB Zinssenkungen in Aussicht stellte, begannen die Währungshüter, über eine neutrale Geldpolitik nachzudenken. Seitdem hat das hawkishe Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel einige der weitreichendsten Ansichten geäußert und argumentiert, dass die jüngsten Krisen und strukturellen Veränderungen den neutralen Wert nach oben – auf 2 bis 3 % – gedrückt haben könnten.
Andere, vor allem die Tauben im EZB-Rat, gehen von einem niedrigeren Wert aus. Unter Berufung auf eine Studie der finnischen Zentralbank sprach Olli Rehn von 2,2 % bis 2,8 %, während Frankreichs Francois Villeroy de Galhau und Griechenlands Yannis Stournaras jeweils ein Niveau von etwa 2 % vorschlugen. Der Portugiese Mario Centeno sieht sie sogar etwas darunter.
Lagardes enge Spanne hat die Frage aufgeworfen, ob sie möglicherweise versehentlich eine Vorschau auf den bevorstehenden Bericht der EZB gegeben hat. Dies würde auf einen Mittelwert von 2 % hindeuten – wo viele Anleger und Ökonomen den Einlagensatz am Ende sehen.
Ein Korridor, wie er von ihr vorgeschlagen wurde, könnte es der EZB auch ermöglichen, eine Diskussion darüber hinauszuzögern, wann die derzeitige Politik nicht mehr als restriktiv bezeichnet werden sollte – eine Formulierung, die auf weitere Zinssenkungen hindeutet.
Stellungnahmen der Ratsmitglieder
In den letzten Tagen haben jedoch einige Währungshüter, darunter der Chefvolkswirt Philip Lane, ihre Skepsis gegenüber der Idee geäußert, dass die Neutralität der Leitstern in ihrem Bestreben sein sollte, die Inflation einzudämmen, ohne die Wirtschaft zusammenbrechen zu lassen.
Gediminas Simkus (Litauen) und Gabriel Makhlouf (Irland) argumentierten, dass Neutralität als schwer fassbares theoretisches Konzept bei alltäglichen Entscheidungen keine übermäßige Rolle spielen sollte.
Stattdessen plädierten sie dafür, sich auf die Inflationsaussichten, den zugrunde liegenden Preisdruck und die Auswirkungen früherer Maßnahmen auf die Finanzierungsbedingungen und die Nachfrage zu konzentrieren. Vizepräsident Luis de Guindos verwies auf die EZB-Umfrage zur Kreditvergabe der Banken als ein besseres Zeichen für Restriktivität.
„Der neutrale Zinssatz ist ein interessantes akademisches Konzept, aber aus politischer Sicht nicht sehr nützlich“, sagte er in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview.
Andere Zentralbanken
Die Haltung anderer Zentralbanken zur Neutralität ist unterschiedlich.
Die Bank of England hat sich fast völlig von diesem Thema ferngehalten, das in letzter Zeit nur zweimal öffentlich angesprochen wurde. Im Dezember sagte Swati Dhingra, sie erwarte, dass die Zinsen in einem neutralen Bereich zwischen 2,5 % und 3,5 % liegen würden. Einen Monat später schätzte ihr Kollege Alan Taylor den Zinssatz auf etwa 2,75 %.
Im Gegensatz dazu enthalten die vierteljährlichen Konjunkturprognosen der US-Notenbank Fed langfristige Schätzungen für den Leitzins, den Ökonomen derzeit bei 3 % sehen.
Mit 4,25 % und 4,5 % sind die Zinsen in den USA noch weit von einem neutralen Niveau entfernt. Anders die EZB, und Schnabel köntne eine der ersten sein, die darauf hinweist, dass dieses Niveau im Laufe des Jahres erreicht werden könnte.
„Nach den starken Zinssenkungen der letzten Monate nähern wir uns dem Punkt, an dem wir uns genauer ansehen müssen, ob und wie weit wir die Zinsen noch weiter senken können“, sagte sie im Januar.
FMW/Bloomberg
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