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Knallharter Wettbewerb im Krieg Gehen Russland Soldaten und Arbeitskräfte aus?

Nicht nur durch Auswanderung hat Russland ein massives Arbeitskräfte-Problem. Armee und Landwirtschaft konkurrieren um Menschen.

Kreml als Symbol für Russland
Kreml aus Symbol für Russland. Foto: sergunt-Freepik.com

Rund 70.000 Stellen bleiben in der russischen Elektrizitätswirtschaft jährlich offen. Diese Zahl nannte Boris Safronow, Leiter der Personalschulungsabteilung des Kompetenzzentrums der Nationalen Technologieinitiative „Technologien für den Stromtransport und intelligente Verteilnetze“ am Moscow Power Engineering Institute MPEI der Nationalen Forschungsuniversität jüngst im November. Ebenso hat sich die Personalnot in der Landwirtschaft aufgeschaukelt, während in der Armee sowohl Soldaten als auch Offiziere fehlen. Macht das Thema „Mangelnde Fachkräfte“ in Deutschland immer wieder von sich reden, führte der Krieg in der Ukraine zu einem knallharten Wettbewerb um Humanresourcen in Russland.

Russland braucht Ingenieure

Im Sommer kam es im Osten des Landes beim Stromangebot zu Engpässen, so dass auch der Export nach China gedrosselt werden musste. Mit Kasachstan gab es beim grenzüberschreitenden Stromverkehr Ärger, wenn vermehrt kasachischer Sonnen- und Windstrom die Kapazitäten des russischen Stromverbundnetzes überstrapazierte. Der Ruf nach Modernisierung und intelligentem Stromtransport sind demnach ein Muss für Russland, damit die Drohung, Kasachstan den Strom abzuschalten, nicht Wirklichkeit wird. Ebenso will China sich die Engpässe des energiemächtigen Nachbarn gewiss nicht auf Dauer gefallen lassen, zumal der russische Strom seit Oktober teurer ist. Wie beim Gastransport, läuft im Stromsektor in Russland die Transformation gen Ost.

Um das alles und dazu noch einen klimaverträglichen Umbau des Energiesystems zu bewerkstelligen, sind laut Safronow Ingenieure von Nöten. „Dank des technologischen Fortschritts findet heute ein Übergang zu einem intelligenten Stromnetz statt, dessen Entwicklung und Betrieb Personal mit speziellen Kenntnissen und Fähigkeiten im Bereich Automatisierung und Netzwerkmanagement erfordert“, erklärte er. Mit Blick auf die aktuelle Lage in Russland sprach er von rund 70.000 Stellen, die jährlich in der Elektrizitätswirtschaft in den letzten Jahren offengeblieben seien. Der Bedarf an hochqualifiziertem Personal wachse jedoch ständig. Derzeit seien Energieingenieure besonders gefragt, die sich mit der Planung, dem Bau und Betrieb von Energiesystemen beschäftigen. Vor dem Hintergrund des wachsenden Stromverbrauchs und des Baus neuer Kraftwerke und Umspannwerke erhöhe sich der Bedarf an Spezialisten.

In der Landwirtschaft sind Löhne niedrig

Alarmstimmung herrscht ebenfalls in der Landwirtschaft in Russland. „Laut den neuesten Statistiken fehlen uns bereits 200.000 Menschen in der Branche“, stellte Oksana Lut, 1. stellvertretende Landwirtschaftsministerin, auf der Sibirischen Agrarwoche in Nowosibirsk fest, wie die russischer Nachrichtenagentur TASS am 8. November berichtete. Die Personalsituation unter anderen Branchen kritisch, da die Löhne in der Landwirtschaft immer noch niedriger sind. In fast jeder Regien seien die Gehälter unter dem Durchschnitt.

Lut stellte außerdem fest, dass die Situation mit den niedrigen Löhnen in der Landwirtschaft größtenteils auf die Aufrechterhaltung niedriger Preise für landwirtschaftliche Produkte in Russland zurückzuführen sei. Sie erklärte, dass das Landwirtschaftsministerium mit dem Arbeitsministerium zusammenarbeite, um den Personalmangel zu beheben und diejenigen zu halten, die bereits in der Branche tätig sind. „Das ist unser zentrales Problem, das wir in den nächsten sechs Jahren lösen müssen“, fügte die stellvertretende Ministerin hinzu.

Soldaten und Offiziere sind dringend gesucht

Wie die Moscow Times im Juni berichtete, scheint die massive Rekrutierungskampagne in Russland für die Armee offenbar nur wenige Soldaten hervorzubringen. Mehr als drei Monate nach ihrem Beginn habe sie noch immer „keine konkreten Ergebnisse gezeigt“, sagte der Militäranalyst Pavel Luzin. „In der russischen Armee herrscht ein Mangel an Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren.“ Anzeigetafeln und Broschüren werben in der Öffentlichkeit für den Eintritt in die Armee. Sie appellieren an den Patriotismus in Russland, und versprechen einen Sold in Höhe von mehr als 2.500 US-Dollar im Monat, der über dem Landesdurchschnitt liegt und Freiwillige anlocken soll. In ländlichen Regionen ist dies immerhin ein Anreiz, da dort die Gehälter niedrig sind, wie es die Ausführungen von Lut nahelegen.

„Nach Angaben des Verteidigungsministeriums sind seit dem 1. Januar 280.000 Menschen mit Verträgen in die russische Armee eingetreten“, sagte Medwedew russischen Medien zufolge am 3. September. Einige von ihnen seien Freiwillige, andere seien Reservisten. Vor dem Hintergrund des halbjährlichen Einberufungszyklus, der am 1. Oktober beginnt, verdichteten sich Gerüchte über eine anstehende Mobilisierung in Russland, hieß es beim Institute for the Study of War (ISW) im Bericht zur russischen Offensive am 13. September. Die russische Führung sei demnach uneins über das Vorgehen, wie sich die Reihen in der Armee am besten auffüllen lassen.

Wagner rekrutiert wieder

Zugleich machen die Wagner-Söldner wieder mehr von sich Reden. Tschetschenienführer Ramsan Kadyrow erklärte am 6. November auf Telegram, dass derzeit eine große Gruppe ehemaliger Wagner-Kämpfer eine intensive Ausbildung im Rahmen der Achmat-Spezialeinheiten absolviere. Über 170 Wagner-Kämpfer mit umfangreicher Erfahrung in Kampfeinsätzen sowohl im Donbass und in der Ukraine als auch an anderen Krisenherden hätten den Wunsch geäußert hat, in den Reihen von Achmat zu dienen, ließ er Ende Oktober wissen.

Von einem „bärtigen Zirkus“ und Fake News war hierzu in einem russischsprachigen Beitrag der BBC am 2. November über die Wege, die Wagner-Kämpfer nach dem Tod ihres Anführers Jewgenij Prigoschin einschlugen, die Rede. Recherchen und Augenzeugenberichte trübten Kadyrows vollmundigen Übertritt von Wagner-Kämpfern in seine Tik-Tok-Truppen, die so genannt werden, weil diese sich in Videos weitab der Frontlinie gern als furchtlose Kämpfer inszenieren. Ende Oktober mehrten sich darüber hinaus Berichte, dass Wagner wieder rekrutiere. Ein Wagner-Vertreter in Perm habe dies bestätigt. Ihm zufolge soll die Privatarmee Wagner Teil der Russischen Garde sein, die Prigoschins Sohn Pawel anführt. Offiziell bestätigt ist der Eintritt in die Russische Garde russischen Medienberichten zufolge nicht.

Russland manövriert

Die russische Führung setzt beim Krieg in der Ukraine wie bereits in den Kämpfen um Bachmut mit der Wagner-Armee offenbar auf kampferprobte Spezialeinheiten und lockt vorzugsweise Geringverdiener wie Landarbeiter mit Sold und Prämien für Kriegsbeute in die Armee. Dass in Russland auch Frauen auch an die Waffe gerufen werden könnten, machte auch schon die Runde. In Kreisen der Militär-Blogger kursiert der notwenige Aufruf zu einer umfassenden Mobilisierung. Dass Putin hier zögert, mag damit zu tun haben, dass eine offizielle Mobilisierung im Land als unpopuläre Maßnahme gilt.

Fachkräftemangel ist gleichzeitig keine zwangsläufige Kriegsfolge. Der aktuelle deutsche Ingenieurmonitor (Quartal II/2023) des VDI weist ähnlich wie der Personalexperte Safronow auf einen starken Engpass bei den Ingenieurberufen in der Energie- und Elektrotechnik hin. VDI-Arbeitsmarktexperte Ingo Rauhut macht den zunehmenden Bedarf an Beschäftigten in Ingenieur- und Informatiker in Deutschland an Demografie, Digitalisierung und Klimaschutz fest. Der Krieg in der Ukraine und der damit verbundene Exodus an Fachkräften verschärft die Personalnot in Russland über demografische und technische Faktoren hinaus jedoch zusätzlich.

Auswanderung

Wenn reihenweise IT-Fachkräfte wegen des Kriegs und aus Furcht vor einer Einberufung ins Ausland fliehen, fehlen Softwareingenieure, die digitale Lösungen für den Betrieb von Smart Grids und Energiemanagementsysteme entwickeln und so die Modernisierung der Elektrizitätswirtschaft und den Umbau zu einem klimaverträglichen Energiesystem in Russland voranbringen. Seit 2022 haben laut einer Informationsplattform des US-Außenministeriums bis August rund 1 Million Russen das Land verlassen, darunter schätzungsweise 100.000 IT-Spezialisten, die 10 Prozent des Technologiesektors ausmachen. Als Hauptgründe zur Flucht nannten Betroffene in einer Studie der Harvard Universität die repressive politische Lage im Land, den Krieg gegen die Ukraine und die Mobilisierung von Männern zum Militärdienst. Mit höherem Sold, Prämien und Privilegien tritt die Armee in Konkurrenz zur Landwirtschaft mit ihren Niedriggehältern. So ist es nicht verwunderlich, dass im ländlichen Nordkaukasus der Personalmangel im Agrarsektor 20 Prozent und im Agrarverarbeitungssektor 27 Prozent erreicht hat.



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6 Kommentare

  1. Naja 16% der oberen Ränge konnten bei der Bundeswehr auch nicht besetzt werden.

    Viele Grüße aus Andalusien Helmut

    1. @Helmut
      Zumindest fehlen Deutschland keine 70.000 Ingenieure bei der Planung und Entwicklung intelligenter, moderner Stromnetze, die – man höre und staune – anscheinend sogar in Russland für „einen klimaverträglichen Umbau des Energiesystems“ benötigt werden. Ganz zu schweigen von den „Softwareingenieuren, die digitale Lösungen für den Betrieb von Smart Grids und Energiemanagementsysteme entwickeln und so die Modernisierung der Elektrizitätswirtschaft und den Umbau zu einem klimaverträglichen Energiesystem in Russland voranbringen.“

      Die linksgrün versiffte Sekte scheint sich selbst in Russland unablässig und beharrlich auszubreiten 😂😅

      1. @Hemut vor allem laufen in Deutschland die Staatsbuerger nicht in Scharen davon, weil man angst haben muss, als Kononenfutter auf dem Schlachtfeld in der Ukraine zu landen.

  2. Mehr als 170 000 Stellen für Ingenieure und Ingenieurinnen sind laut VDI und IW unbesetzt.

    Sind die alle ausgewandert, oder wurden so wenig ausgebildet?

    Viele Grüße aus Andalusien Helmut

    1. Vertrauen ist dahin, wenn Vertrauen Missbraucht wird.
      Der grösste Vertrauensverlust der USA durch Weltweit Einmaligen Missbrauch und Lügenpropaganda für den Irakkrieg macht uns schwer einer Information der US Regierung zu Vertrauen. Das Beste ist, die Verarschen uns weiter und weiter und wir Glauben ihnen. UND WARUM? Es wäre für uns Unerträglich zu sagen wir lagen falsch. Aber halt ich hab Unrecht.

    2. In Russland geht es laut Artikel um 70.000 Stellen, die jährlich in der Elektrizitätswirtschaft in den letzten Jahren offengeblieben seien. JÄHRLICH und NUR IN DER ELEKTRIZITÄTSWIRTSCHAFT.
      Ich hatte ja bereits die fehlenden Softwareingenieure auch nur für das Energiemanagement angesprochen.
      Vom Rest der Wirtschaft – falls es so etwas in Russland gibt – einmal ganz zu schweigen.
      In Deutschland ergibt sich laut IW und VDI eine jährliches Defizit von 26.500 INSGESAMT.

      „Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das zusammen mit dem VDI den Ingenieurmonitor erstellt, geht von einem jährlichen Bedarf an 130.500 Ingenieurinnen und Ingenieuren aus. Davon entfallen 56.000 auf den Ersatzbedarf, weil Fachkräfte aus Altersgründen aus dem Arbeitsleben ausscheiden und 74.500 auf den Zusatzbedarf für Zukunftsaufgaben wie die Klimawende.

      Jährlich treten aber aktuell nur rund 70.000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen mit ingenieurwissenschaftlicher Qualifikation neu in den Arbeitsmarkt ein. Hinzu kommen etwa 34.000 Zuwanderer, so dass sich rechnerisch eine Fachkräftelücke von 26.500 Personen ergibt.“
      https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/arbeitsmarkt-ingenieurmangel-spitzt-sich-zu-mehr-als-170-000-stellen-offen/29140000.html

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