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Leopoldina: Russischer Gas-Lieferstopp „handhabbar“ – Text im Wortlaut

Kerze mit Gas

Gleich vorab meine Meinung: Einerseits müsste man für mildes Wetter im nächsten Winter beten, und gleichzeitig die Verbraucher in Deutschland auf noch viel höhere Gas-Rechnungen als jetzt einschwören. Denn Katar und US-Produzenten werden die Hand aufhalten! Aber zur Sache. Die „Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina“ hat vor wenigen Minuten eine „Ad Hoc-Stellungnahme“ zur sicheren Energieversorgung veröffentlicht. Wer das ganze Papier lesen möchte, findet es HIER auf 9 Seiten. Der wichtigste Satz lautet:

Das Papier kommt zu dem Schluss, dass auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre.

„In Leopoldina we trust“, möchte man da hoffnungsfroh sagen, falls sich die Bundesregierung darauf berufen sollte? Auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz erst gestern sagte, dass Energielieferungen aus Russland aus den Sanktionen bewusst ausgenommen wurden, weil Deutschland darauf nun mal angewiesen ist – wie schnell kann sich diese Sichtweise bitte ändern? Wenn es zum Beispiel in Kiew zu brutalen Straßenkämpfen kommt, und man westliche Sanktionen weiter hochschrauben möchte? Die Headline des Leopoldina-Papiers lautet „Wie sich russisches Erdgas in der deutschen und europäischen Energieversorgung ersetzen lässt“. Dies könne unter anderem durch die Beschaffung von Flüssiggas, das Anlegen einer robusten Reserve an Energieträgern und den Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur erreicht werden. Durch die unmittelbare Umsetzung eines Maßnahmenpakets könnten Engpässe vermieden und ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen abgefedert werden. Hier Leopoldina mit wichtigen Aussagen in Kurzform im Wortlaut:

Erdgas hat in Deutschland einen Anteil am Primärenergieverbrauch von über 25 Prozent und wird überwiegend für industrielle Prozesse sowie von privaten Haushalten eingesetzt. Die Hauptnutzung von Erdgas liegt dabei in der Wärmeerzeugung, weniger im Stromsystem. Etwas mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Erdgases wird aus Russland importiert. Der Rest wird vorwiegend aus Norwegen und den Niederlanden bezogen. Derzeit sind die Speicher für Erdgasreserven in Deutschland zu 27 Prozent gefüllt.

Um auf einen möglichen Stopp russischer Erdgaslieferungen in die EU vorbereitet zu sein, sind Sofortmaßnahmen, eine mittelfristige Diversifizierung der Energieversorgung und eine Einbettung dieser Maßnahmen in einen Transformationspfad hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung notwendig.

Als kurzfristige Maßnahme (kommende Wochen und Monate) diskutiert die Ad-hoc-Stellungnahme zum Beispiel Flüssiggasimporte, Einsparungen beim Erdgas und das Füllen von Gasspeichern als Puffer für den Winter. Um die Erdgasnachfrage zu reduzieren, könnte zudem auf eine stärkere Kohleverstromung gesetzt werden. Dies führt kurzfristig zu höheren Kosten für die vom europäischen Emissionshandel erfassten Unternehmen. Dabei sind finanzielle Belastungen der Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen sozial abzufedern und Unternehmen von Energiesteuern zu entlasten. Mittelfristig (innerhalb eines Jahres) benötigt Deutschland eine robuste Reserve an Energieträgern, einen Ausbau der Flüssiggaskapazitäten und eine Ertüchtigung des Gasnetzes. Langfristig (zwei bis zehn Jahre) wird der Ausbau der Infrastruktur für den Umschlag und Import von Wasserstoff empfohlen sowie der Ausbau der erneuerbaren Energien.

Da die Energieversorgung zur staatlichen Daseinsvorsorge zählt, reichen die Optionen für die künftige Gestaltung des Energieversorgungssystems von einer vollständig staatlichen Energieversorgung bis hin zu einer rein privatwirtschaftlichen Energieversorgung unter staatlicher Regulierung und Aufsicht. Dabei ist darauf zu achten, Mikromanagement zu vermeiden, so die Autorinnen und Autoren. Zentral ist dabei die Übertragungsinfrastruktur, die aus Energiehäfen, Großspeichern und den Übertragungsnetzen („Energieautobahnen“) besteht. Sie könnte wie bisher privat bewirtschaftet werden, sollte dann aber in Struktur und Nutzung staatlicher Regulierung unterliegen. Auch die Bereitstellung, Wandlung, Verteilung und Nutzung der Energie könnten weiterhin privatwirtschaftlich innerhalb eines klaren und stabilen staatlichen Rahmens organsiert sein.

Wichtig ist den Autorinnen und Autoren, den geplanten Kohleausstieg 2030 nicht in Frage zu stellen. Er hilft dabei, von russischen Kohleimporten, die 50 Prozent der Kohleeinfuhr nach Deutschland ausmachen, unabhängig zu werden. Bestehende wirksame Mechanismen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen, allen voran der Emissionshandel und seine Weiterentwicklung im Rahmen des EU Green Deal, dürfen nicht aufgeweicht werden.

Die aktuelle Situation macht es erforderlich, den Umbau des Energiesystems noch energischer als bisher voranzutreiben. Die politischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die Akteure des zukünftigen Energiesystems sollten europäisch angelegt werden. Dabei sollten diejenigen EU-Mitgliedsstaaten vorangehen, deren Energieversorgung aktuell von Russland besonders abhängig ist.



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4 Kommentare

  1. Die unterschiedliche Abhängigkeit in von russischem Gas in Europa am Beispiel Österreich (80%) und Italien (40%) besonders deutlich ausgeprägt.

  2. *Das Papier kommt zu dem Schluss, dass auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre.*

    Kurzfristig (in diesem Zusammenhang) = mehrere Wochen…danach kommt das Frühjahr, solange werden die
    Gasspeicher noch etwas hergeben.

    Leider handelt es sich um „kurzfristige“ Beruhigung in Richtung Industrie und vor allem den Haushalten.

    …Europa hat es in knapp zwei Jahren nicht geschafft, die Schutzmaskenproduktion (FFP2) in die Gänge zu bringen, FFP2 kommt immer noch aus China!

    Wir werden uns zu Tode sparen müssen (Stom, Öl, Gas) um über die Runden zu kommen, eine echte Energiewende werden wir nicht zeitgerecht und ohne Nebenwirkungen schaffen können.

    Neue und größere Öl- und Gaslager?…noch mehr Schulden!

    Corona innerhalb kürzester Zeit Geschichte…wofür haben wir eigentlich die letzten zwei Jahre „geübt“?

    „…am Ende werden wir nichts mehr haben, aber glücklich sein“…Gute Nacht Europa!

    1. Hallo Joachim. Die Bedenken sind berechtigt und nachvollziehbar. Dennoch haben wir inzwischen eine bisher noch nie da gewesene Eskalationsstufe erreicht. Putins Entschlossenheit und Skrupellosigkeit bedroht die Sicherheit und Stabilität der gesamten menschlichen Zivilisation. Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir komplett seiner Willkür ausgesetzt. Wenn er will oder wenn seine Enttäuschung zu einer Kurzschlussreaktion seinerseits führen sollte, stoppt er womöglich zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt die Energielieferungen. Aufgrund seiner Unberechenbarkeit und der Entwicklung der letzten Wochen können wir selbst die schlimmsten Albtraumszenarien nicht mehr ausschließen. Ich denke es wäre immer noch besser, wenn wir aktiv und kontrolliert selbst über unser Schicksal entscheiden, als es ihm zu überlassen.

  3. Ich seh in dem Papier kein Konzept wie man ohne Rationierungen über den nächsten Winter kommen könnte. Abgesehen davon dass für die Verflüssigung von Erdgas für den Schifftransport etwa 12 % der Energie verschleudert wird, was die CO2 Bilanz verschlechtert (Faktenblatt Vorkettenemissionen von Erdgas von https://gas.info/). Frackinggas steht demnach sogar noch schlechter da, etwa in der Mitte zwischen russischem Erdgas und Steinkohle. Danke Grüne, gut gemacht!

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