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Shanghai im Lockdown: Wie im Krieg, nicht in einer Pandemie

Zurück bleibt die Stadt Shanghai, in der die Zukunft schon heute Vergangenheit ist

Shanghai Lockdown Krieg

Es sind die „Dunklen Tage“ des Lockdowns von Shanghai. Keine kuaidi’s, die Kurierlieferdienste der umliegenden Restaurants und Supermärkte, die bisher ausliefern durften, können die compounds, die Wohnanlagen, betreten. Keine Essenslieferungen, außer dem, was die Behörden schicken. Stille herrscht in den Chatgruppen. Keine Fragen mehr, ob man etwas mitbestellen möchte. Kein stundenlanges Suchen mehr nach Essen zu einem halbwegs vernünftigen Preis.

Die tägliche Routine im Lockdown: Die Freunde fragen, wie es ihnen geht. Wer welchen Test wie oft absolvieren musste. Lieferanten kontaktieren, wie bei ihnen der Status ist. Ob sie Material bekommen haben, ob sie im Lockdown sind, ob sie etwas rauschicken können. Sich bei den Agenten von DHL, FedEx, TNT nach dem Status von Aussendungen erkunden und welche kreativen Wege sie gefunden haben, Muster ins Ausland zu schicken. Video-Anrufe mit Kunden.

Traurige Routine mittlerweile auch die wöchentlichen Videomeetings mit dem deutschen Generalkonsulat. Ein zunehmend verzweifelter Pit Heltmann berichtet wieder einmal, wie wenig kooperativ die chinesischen Behörden sind. Die Konsulatsangehörige erhalten keinen Zugang zur Visastelle, die räumlich getrennt vom Sitz des Generalkonsuls ist. Visa für chinesische Ehepartner können daher nicht erteilt werden. Ausländer werden in Quarantäne-Stationen gesteckt, von dem selbst die Chinesen sagen, dass sie „für Ausländer“ nicht geeignet seien. Und für Chinesen? Stille ist auch eine Antwort.

Shanghai: Antreten zum Testen – auch Nachts

Die Stille des Lockdowns wird unterbrochen von den Megafonen oder Klopfen der Freiwilligen oder des Nachbarschaftskomittees: Antreten zum Testen. Manchmal um ein Uhr morgens, manchmal um drei Uhr nachts, manchmal im Laufe des Tages. Dann warten auf das Ergebnis, zwölf Stunden, 36 Stunden, oder das System ist mal wieder Offline.

Stille in den Straßen von Shanghai. Die Werbung am IAPM in der Hengshan Lu 999 leuchtet seit Wochen. 999 – die am nächsten gelegenen Zahl zu eintausend, die ausschließlich dem Kaiser vorbehalten war. Das IAPM steht dort, wo bis 2006 der Fake-Market beheimatet war. Unter den Markisen konnte man alles kaufen: Hemden und T-Shirts von Lacoste, Unterhosen von Calvin Klein, Schuhe von Adidas und Nike.

Statt der billigen Fakes werden nun die Originale angeboten, auf sieben Stockwerken, von Apple über Bose zu Samsung und Zara. Der riesige LED-Bildschirm am Eingang kündet von der erfolgreichen Kommunistischen Partei Chinas. Unter dem Bildschirm Helfer in weißen Ganzkörperanzügen.

Shanghai: Man wähnt sich im Krieg

Die Stille ängstigt. Xintiandi, das Touristenviertel rund um den Gründungsort der Kommunistischen Partei China‘s, wo man sonst im Biergarten vom „Paulaner“ und anderen Restaurants und Bars sitzt, oder man flaniert, ist ausgestorben. Die Danshui Lu, die zwischen Xintiandi und Fuxing Park mitten durch die ehemalige Französische Konzession führt, ist nicht nur leer. Die Straße ist gesäumt von Barrikaden, die die Häuserzeile versperrt. Man wähnt sich im Krieg, nicht in einer Pandemie. Nur die Einschusslöcher fehlen. Auch die einzelnen Bezirke, mancherorts auch die Unterbezirke sind mit Barrikaden aus Containern oder Zäunen abgetrennt. Mancherorts wurden selbst innerhalb von compounds Absperrungen errichtet. Was bleibt, sind die Schlangen bei den Tests, wahrscheinlich der Ursprung vieler Infektionen.

Die Stille wird unterbrochen von einem einsamen Basketballspieler, der auf einem Schulsportplatz Freiwürfe übt, bis er von einem Männchen zur Ordnung gerufen wird. Das Gras auf dem angrenzenden Fußballplatz ist schon einen halben Meter hoch.

Stille und Gras auch am Bund. Dort, wo sich jeden Tag hunderte Menschen tummeln, vor der Skyline von Pudong posieren, ist etwas, was die Medien versuchen aus den Köpfen zu bekommen. Dass die Natur sich binnen weniger Wochen dort breit macht. Von der anderen Seite des Huangpu’s grüßt ein übergroßes Schild und kündet vom 100-jährigen Geburtstag der Kommunistischen Partei.

Agonie – und Selbstmorde

Der Fassungslosigkeit und Wut der ersten Wochen des Lockdown in Shanghai ist der Agonie gewichen. Still nimmt man das halbvergammelte Gemüse der Care-Pakete entgegen. Still erträgt man die Tests, hoffend, dass niemand um einen herum positiv ist. Still schaut man auf das Video, dass wieder jemanden zeigt, der in seiner Verzweiflung vom Hochhaus springt. Wie Tong Weijing, eine junge Journalistin der staatlichen Zeitung Wenhui Daily, die zur Shanghai United Media Group gehört. Der wahre Grund ihres Todes wird von ihrer Redaktion natürlich nicht erwähnt. Auch dies ist neu in dem Lockdown. Der Selbstmord ist leise in China. Meist bringen sich alte Menschen um, vorwiegend mit Gift, denn man will seiner Familie nicht zur Last fallen und kein Aufsehen erregen. Daher ist Rattengift so schwer zu bekommen. RIP, Tong Weijing.

Still zerplatzen die Träume einer Generation. Es werden alle „nicht-notwendigen“ Reisen untersagt. Zwei Jahre hielt sich die Hoffnung, wieder nach Paris, Berlin, New York reisen zu können. Kein Studium mehr im Ausland. Keine chinesischen Ingenieure mehr „Made in Dresden“. Sollte dieser Reise-Bann aufrechterhalten werden, wird der Wissensverlust die chinesische Wirtschaft in wenigen Jahren erreichen. Abgesagt sind auch die Asienmeisterschaften im Fußball für nächstes Jahr.

Stille wird wohl auch bald am Telefon herrschen. In Zhejiang, der Nachbarprovinz Shanghais, sollen in Zukunft Anrufe aus dem Ausland blockiert werden. Angeblich, um Telefonbetrügereien einen Riegel vorzuschieben.

Stille nährt aber auch die Hoffnung. Die „freiwilligen“ Helfer ziehen ab. Mit Bussen werden sie zum Inlandsflughafen Hongqiao gebracht. Bald wird die Stille des Lockdowns hoffentlich wieder der Kakophonie aus Hupen, am Telefon laut schnatternden Menschen und lamentierende Hausfrauen weichen.

Zurück bleibt die Stadt Shanghai, in der die Zukunft schon heute Vergangenheit ist.



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3 Kommentare

  1. Naja, ich hoffe nicht, dass die westlichen Regierungen wieder dem „Vorbild“ China zeitversetzt folgen werden, wenn es darum geht, wie der Lockdown im Rest der Welt anzuwenden ist.
    Wer weiß auch schon, was für eine Variante von Corona dort jetzt im Umlauf ist. Zumal das Virus es sogar erstmals bis Nordkorea geschafft hat.
    Was vielleicht doch diese brachialen Maßnahmen rechtfertigt.
    Wer jetzt dort einen Schrank voll Konserven hat, wird in Ruhe abwarten können.

    Viele Grüße aus Andalusien Helmut

  2. Die Metropole Shanghai soll schrittweise zur Normalität zurückgeführt werden. Dies könnte Industrieproduktion und die Nachfrage nach Ölprodukten stimulieren.

  3. Scheinbar sind die Chinesen leidensfähiger als in der hiesigen Presse angenommen. Sahen doch schon einige den Kollaps voraus.

    Für mich gibt es nur noch zwei Begründungen für diese Strategie:

    1. Der Virus ist viel gefährlicher als wir annehmen. Sollten die Chinesen ihn produziert haben, dürften sie um seine Gefährlichkeit wissen

    2. Corona ist ein Vehikel, um dem Westen extrem zu schaden. Uns fehlt diese starke Leidensfähigkeit.

    Deshalb tippe ich auf „2“.

    In Shanghai hat 28 Mio Einwohner. Für uns Europäer eine gewaltige Zahl, die uns echt Angst macht. In Deutschland wären diese ca. 25 % der Bevölkerung. In Relation zu der chinesischen Bevölkerungsanzahl ist es ca. 0, 2 %. (hoffentlich kam ich mit den vielen Nullen klar). Ich kann mir kaum vorstellen, dass 0,2 % der Bevölkerung das System „lahmlegen“ können*. Wenn gleichzeitig, die Öl- und Gasexporte von Russland nicht signifikant gesunken sein sollten (was ich gelesen habe dann kommen raue Zeiten auf uns zu.
    * sicherlich hat diese auf das Land insgesamt Auswirkungen. Doch bei der Leidensfähigkeit und Geduld, sollten wir wirklich nicht auf ein schnelles nachgeben hoffe. Wahrscheinlich ist die Babynahrung-Problematik für Biden gefährlicher.
    Ich hoffe sehr, dass ich falsch liege.

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