Indien wollte unabhängiger werden, doch die Industrie hängt mehr denn je von China, den USA und Russland ab. Der Traum von „Make in India“ droht zu scheitern.
Statt „Make in India“: Mehr Abhängigkeit von USA, China, Russland
Als Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014 das Programm „Make in India“ ankündigte, verband sich damit ein großer wirtschaftlicher Anspruch. Indien sollte sich von einer dienstleistungsorientierten Marktökonomie in eine eigenständige Produktionswirtschaft wandeln. Der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt sollte von 15 Prozent im Jahr 2014 auf 25 Prozent im Jahr 2025 steigen. Ziel war eine eigene industrielle Basis, um die Abhängigkeit von Importen deutlich zu verringern, vor allem von Importen aus China. Elf Jahre später zeigt sich jedoch ein gegenteiliger Trend. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am BIP ist sogar auf unter 14 Prozent gefallen. Von einer tiefgreifenden Industrialisierung ist Indien weiter entfernt als zu Beginn der Initiative. Besonders deutlich wird dieses Scheitern am ungelösten Dilemma von „Upstream“ und „Downstream“.
Indien montiert, China liefert – die Abhängigkeit bleibt
Indien hat im „Downstream“-Bereich, also bei der Endmontage von Produkten, sichtbare Fortschritte gemacht. Fabriken für Smartphones, Drohnen oder Solarmodule sind entstanden, auch Apple lässt inzwischen 20 Prozent seiner iPhones in Indien fertigen. Doch der „Upstream“-Bereich bleibt unerschlossen. Maschinen, Komponenten, Vorprodukte und Technologien stammen weiterhin fast vollständig aus China. Indien montiert mehr, produziert aber kaum eigenständig. Die Wertschöpfung bleibt gering, technisches Know-how fehlt. Selbst bei den Erfolgsmeldungen, etwa bei Apple, zeigt sich dieses Muster. Zwar wird in Chennai montiert, doch zentrale Bauteile wie Displays, Leiterplatten und Chips kommen weiter aus China. Die lokale Wertschöpfung liegt bei iPhones bei sechs bis acht Prozent, bei Samsung-Smartphones bei maximal dreißig Prozent. Der Aufbau einer unabhängigen Elektronikindustrie ist nicht gelungen.
Ähnliche Abhängigkeiten prägen andere Schlüsselindustrien. Drohnen von Firmen wie Adani oder Hindustan Aeronautics bestehen zu über siebzig Prozent aus chinesischen Bauteilen. Auch die Batterieproduktion für Elektrofahrzeuge bleibt abhängig. Indien will eigene Zellfabriken errichten, gestützt durch das Production Linked Incentive Programm, kurz PLI. Dieses Förderprogramm der Regierung stellt rund 26 Milliarden US-Dollar bereit, um die Herstellung kritischer Vorprodukte im Inland voranzutreiben. Die Mittel sollen gezielt dort wirken, wo bisher Importe aus China dominieren. Doch trotz PLI entstehen im Batterie-Sektor kaum echte Unabhängigkeit. Lizenzen, Maschinen und Prozesse stammen weiterhin aus China, etwa von Gotion oder BYD. Selbst in geplanten Giga-Fabriken bleibt der technologische Ursprung chinesisch.
Im Pharmasektor zeigt sich dasselbe Bild. Indien exportiert weltweit Generika, doch über siebzig Prozent der Wirkstoffe – die sogenannten Active Pharmaceutical Ingredients – stammen aus China. Auch hier sollte das PLI-Programm den Aufbau lokaler Produktionskapazitäten unterstützen. Der Erfolg bleibt aus. Die Importquote sinkt nur minimal, eigene Kapazitäten entstehen zu langsam.
Diese „Upstream“-Schwäche ist teilweise politisch hausgemacht. Nach den Grenzkonflikten mit China in Doklam 2017 und Galwan 2020 verhängte Neu-Delhi strenge Auflagen für chinesische Investoren und beschränkte die Vergabe von Arbeitsvisa an chinesische Fachkräfte. Doch dieser Schritt wirkte als Bumerang. Viele Produktionsprojekte verlangsamten sich, weil Maschinen, technische Beratung und Zulieferteile fehlten. Die Abhängigkeit von chinesischen Vorprodukten blieb bestehen. Statt eigenständige Lieferketten im Inland aufzubauen, entstand ein teurer, ineffizienter Umweg über Drittstaaten oder aufwendig genehmigte Sonderimporte. So verschärfte sich das Upstream-Problem, während der Downstream-Erfolg politisch gefeiert wurde.
Auch Indiens Großkonzerne tragen Verantwortung. Unternehmen wie Tata, Reliance oder Mahindra investieren deutlich weniger in Forschung und Entwicklung als ihre globalen Wettbewerber. Der Rückstand bei Innovationen, Patenten und technischem Know-how bleibt bestehen. Ohne eigene Fortschritte bleibt Indien auf ausländische Technik angewiesen – vor allem aus China, das gezielt den Export von Schlüsseltechnologien kontrolliert.
Peking nutzt diese Abhängigkeit strategisch. Mit einer Politik der gezielten Verweigerung bremst China den Transfer kritischer Ausrüstung ins Nachbarland. Der Fall einer Tunnelbohrmaschine der deutschen Firma Herrenknecht zeigt dies beispielhaft. Obwohl für ein indisches Infrastrukturprojekt bestimmt, verweigerte China den Export. Auch Maschinen für Halbleiterfertigung oder Batteriezellproduktion unterliegen solchen Kontrollen. Indien bleibt im Upstream blockiert, während China seinen technologischen Vorsprung absichert.
USA, Russland, China – Indiens Zwickmühle
Gleichzeitig wächst Indiens Abhängigkeit von weiteren Partnern. Für Hochtechnologie und Rüstung bleibt Washington unverzichtbar. Für Energieimporte und Militärgüter ist Russland der wichtigste Lieferant. Vietnam und andere südostasiatische Staaten gewinnen als Zulieferstandorte an Bedeutung. Doch sie ersetzen China nicht im entscheidenden Upstream-Segment. Damit verstrickt sich Indien in eine gefährliche Mehrfachabhängigkeit.
Das Land steht wirtschaftlich an drei Fronten unter Druck. China bleibt unersetzlich für Maschinen, Materialien und technisches Wissen. Die USA liefern Software, Chips und Waffentechnik. Russland bleibt Energielieferant und Rüstungspartner. Indien droht, in dieser Konstellation dauerhaft verwundbar zu bleiben. Ein Ausweichen auf alternative Quellen ist derzeit kaum möglich. Die selbst erklärte Strategie der Multi-Alignment entwickelt sich zur unbequemen Realität einer Multi-Abhängigkeit.
Vor diesem Hintergrund beginnt Neu-Delhi, den harten Kurs gegen China zu korrigieren. Im März 2025 lockerte die Regierung erstmals seit Jahren die Auflagen für chinesische Direktinvestitionen. Indische Firmen wie Dixon verhandeln wieder mit chinesischen Partnern, etwa bei der Fertigung von Display- und Kameramodulen. Auch der einst verbotene Online-Händler SHEIN kehrt über den Reliance-Konzern auf den indischen Markt zurück. Selbst im sensiblen Batteriesektor öffnet sich Indien erneut. Geplante Werke wie die Giga-Fabrik von Amara Raja setzen auf Technik aus China.
Diese wirtschaftliche Annäherung bleibt politisch umstritten. Im Kabinett Modis gibt es Widerstand. Doch die wirtschaftliche Realität erzwingt Kompromisse. Ohne chinesische Technik bleibt der eigene Industrialisierungsplan unvollständig. Analysten warnen bereits, dass Peking diese neue Hebelwirkung strategisch nutzen könnte, um Indiens industrielle Entwicklung zu beeinflussen.
Wirtschaftsdruck aus Washington und Peking
Peking nutzt diese neue Hebelwirkung bereits gezielt, um Indiens industrielle Entwicklung zu beeinflussen. Weitere Faktoren verschärfen die Lage und begrenzen Indiens Handlungsspielraum zusätzlich.
Die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus hat die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Indien weiter verschlechtert. Seine Regierung hat pauschale Importzölle von zehn Prozent eingeführt, für Indien gelten im bilateralen Handel sogar Sätze von bis zu 26 Prozent. Eigentlich hätte diese Politik indischen Firmen Vorteile im Wettbewerb mit chinesischen Anbietern verschaffen sollen, die von wesentlich höheren Zöllen betroffen sind. Doch Indiens Industrie ist auf chinesische Vorprodukte angewiesen. Die neue Zollpolitik verteuert nicht nur den Export indischer Waren in die USA, sondern belastet gleichzeitig die ohnehin fragile Produktionskette. Ohne eigene „Upstream“-Kapazitäten bleibt Indien bei Maschinen, Komponenten und Materialien auf Importe angewiesen, vor allem aus China. So verpufft der erhoffte Vorteil der US-Zölle. Für Indien entsteht ein doppelter Nachteil: steigende Kosten auf der einen Seite und unveränderte Importabhängigkeit auf der anderen.
Hinzu kommt ein zweites strukturelles Hindernis: das strenge Devisenmanagement der indischen Regierung und der Zentralbank. Der Import von Maschinen, Hightech-Ausrüstung und Spezialmaterialien erfordert nach wie vor Devisengenehmigungen, Freigaben und bürokratische Verfahren. Mittelständische Unternehmen im Industriebereich stoßen hier regelmäßig an Grenzen. Auch internationale Investoren zögern, weil Gewinntransfers, Lizenz-Zahlungen oder Technologielieferungen kompliziert bleiben. Diese Politik lähmt die dringend notwendige Modernisierung der Produktionsbasis. Selbst staatliche Förderprogramme wie das PLI laufen ins Leere, wenn der Zugang zu ausländischer Technologie durch Devisenbeschränkungen blockiert wird.
Indien scheitert am eigenen Industrie-Traum
Solange diese beiden Bremsen bestehen – eine Belastung durch neue Handelszölle und ein rigides Devisenregime –, bleibt Indiens Aufstieg zu einer eigenständigen Industrienation unvollständig. Die strategische Abhängigkeit im „Upstream“-Bereich verfestigt sich weiter.
Indien gerät so in einen gefährlichen Zielkonflikt. Außenpolitisch will es unabhängig bleiben, technologisch bleibt es jedoch gefangen. Die Abhängigkeit im Upstream-Bereich begrenzt die Handlungsspielräume in einer Welt wachsenden geopolitischen Wettbewerbs.
Das Ziel eines souveränen „Make in India“ rückt in weite Ferne. Ohne tiefgreifende Reformen bei Forschung, Bildung und Investitionen wird dieser Zustand anhalten.
Die Vision einer eigenständigen Produktionswirtschaft bleibt vorerst unerfüllt. Indien bleibt ein Land des Downstream-Erfolgs und des Upstream-Misserfolgs.
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