Ein Gastkommentar von Ernst Wolff
Mitte September deckte die US-Umweltschutzbehörde die kriminellen Machenschaften des VW-Konzerns bei der Manipulation von Abgaswerten auf. Die ersten Meldungen von 11 Mio. betroffenen Fahrzeugen deuteten bereits an, dass VW vor der größten Herausforderung stand, die das Unternehmen je zu bewältigen hatte.
Inzwischen hat es weitere Hiobsbotschaften gehagelt: Das Bundesverkehrsministerium in Berlin hat bekannt gegeben, dass auch Millionen in Europa zugelassene Volkswagen von dem Skandal betroffen sind. Die amerikanische Umweltschutzbehörde wiederum hat die Weltöffentlichkeit Anfang November darüber informiert, dass auch bei den Automarken Audi und Porsche manipuliert wurde.
Die jüngsten Tiefschläge kamen aus Südkorea und Kalifornien. Zunächst verurteilte das südkoreanische Umweltministerium VW zu einer Geldstrafe von 11,6 Mio. Euro und verlangte den Rückruf von 125.000 Dieselfahrzeugen bis zum 6. Januar 2016. Dann teilte die kalifornische Umweltbehörde mit, sie setze Volkswagen, Audi und Porsche eine Frist von 45 Tagen, um einen Rückrufplan für die betroffenen Fahrzeuge einzureichen.
Der finanzielle Schaden für den Konzern lässt sich derzeit noch nicht einmal annähernd abschätzen. Die Umrüstung der Fahrzeuge wird Milliarden verschlingen, und die Strafzahlungen, die allein in den USA drohen, werden zurzeit mit 18 Mrd. Dollar beziffert. Volkswagen hat bisher ganze 6,5 Mrd. Euro für diese Zahlungen zurückgestellt.
Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass Staaten mit eigener Autoproduktion alles tun werden, um VW weiter in die Enge zu treiben, um so die Konkurrenzsituation der eigenen Marken zu verbessern. Aus diesem Grund wird dem Wolfsburger Konzern in der tiefsten Krise seiner fast 80jährigen Geschichte auch zukünftig ein eisiger Wind entgegenwehen.
Die VW-Aktie steigt trotzdem
Gleichzeitig aber zeichnet sich am Aktienmarkt eine Entwicklung ab, die diese Tatsachen vollkommen zu ignorieren scheint: Seit knapp zwei Wochen steigt der Kurs der VW-Aktie stetig an. Wie kann das sein…? Glauben Investoren allen Ernstes, dass VW wie ein Phönix aus der Asche steigen und als Gewinner aus der gegenwärtigen Krise hervorgehen kann?
Keinesfalls. Die steigenden Kurse sind nur eine Folge der Deregulierung der Finanzmärkte und ein hervorragendes Beispiel für den Wahnsinn, der die Aktienmärkte derzeit beherrscht. Die Deregulierung erlaubt es großen Investoren (wie z.B. den Hedgefonds), nicht nur an steigenden Kursen (die ja die positive Einschätzung der Entwicklung eines Unternehmens widerspiegeln), sondern auch an fallenden Kursen zu verdienen. Das funktioniert unter anderem über den Mechanismus der Leerverkäufe (englisch: short selling).
Bei einem Leerverkauf setzt ein Investor darauf, dass der Kurs eines Unternehmens fallen wird. Statt ein Aktienpaket zu kaufen, leiht er es sich zu einem niedrigen Preis (im Allgemeinen 1 bis 2 Prozent des Kurswertes), verkauft es umgehend und hat nun innerhalb der Leihfrist Zeit, die Aktien mit dem eingenommenen Geld zu kaufen. Im Falle VW haben viele große Investoren unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Skandals auf fallende Kurse gesetzt und solche Leerverkäufe getätigt. Dass genau zwei Monate nach Einsetzen des Skandals der VW-Aktienkurs wieder in die Höhe geschnellt ist, zeigt, dass viele von ihnen sich die Aktienpakete für zwei Monate geliehen hatten und sie nun auf Grund vertraglicher Abmachungen die gleiche Menge Aktien kaufen müssen, um sie zurückgeben zu können.
Die steigenden Kurse der vergangenen zwei Wochen spiegeln also keinesfalls eine gesunde Entwicklung oder gar eine Erholung des Konzerns wider. Sie sind Ausdruck der Tatsache, dass Spekulanten am Niedergang des VW-Konzerns verdient haben. Leerverkäufe sind nichts anderes als reine Wetten und tragen nicht zur positiven Entwicklung einer Wirtschaft bei. Sie schaffen keinerlei reale Werte, sondern bieten Spekulanten die Möglichkeit, sich an den Kursentwicklungen schlingernder Unternehmen – wie jetzt VW – zu bereichern.
In den USA sind Leerverkäufe 1938 verboten und 2007 wieder zugelassen worden. Im Rahmen der Krise von 2007 / 2008 wurde weltweit immer wieder verlangt, Leerverkäufe grundsätzlich zu verbieten. Tatsächlich wurden sie in den USA von der Finanzmarktaufsicht auch eingeschränkt – allerdings nur für wenige Wochen. Auch in Deutschland wurde der Handel mit Leerverkäufen 2007 verboten, Anfang 2010 aber in seiner extremsten Form, den ungedeckten Leerverkäufen (engl. naked short selling) wieder erlaubt. Warum?
Der Grund ist simpel: 2007 / 2008 stand das Weltfinanzsystem am Abgrund, zahlreiche große Finanzinstitutionen wurden für „too big to fail“ erklärt und mit Steuergeldern gerettet. Um die dadurch entstandenen Löcher in den Bilanzen von Staaten und Finanzinstitutionen zu stopfen, wurden vor allem 3 Maßnahmen ergriffen: Es wurden Unsummen an Geld gedruckt, die Leitzinsen gesenkt und hochriskante Spekulationen erlaubt. Auf diese Weise wurden Aktien- und Anleihenkurse künstlich in die Höhe getrieben und der Eindruck erzeugt, das System „erhole“ sich. In Wahrheit ist es – ähnlich einem Patienten auf der Intensivstation – nur durch die Verabreichung dreier Drogen (Gelddrucken, Zinssenkung und Deregulierung) künstlich am Leben erhalten worden.
Aber nicht nur die Leerverkäufe tragen derzeit zum Kursanstieg der VW-Aktie bei. Ein weiterer wichtiger Faktor dürfte auch die Manipulation des Kurses durch Rückkäufe seitens der Geschäftsführung sein – ein Prinzip, das in den vergangenen Jahren ebenfalls zu einer vollständigen Verzerrung sämtlicher Aktienmärkte in der ganzen Welt beigetragen hat. Nach Schätzungen der US-Bank Citygroup haben Unternehmen außerhalb des Finanzsektors weltweit zwischen 2011 und 2014 eigene Aktien im Umfang von 2,2 Billionen US-Dollar zurückgekauft (eine Summe, die dem Bruttoinlandsprodukt Brasiliens entspricht). Die 450 größten amerikanischen Unternehmen wandten 2014 im Durchschnitt 51 Prozent ihrer Reingewinne für Aktienrückkäufe auf, dreimal mehr als sie in neue Investitionen steckten.
Ein Blick auf die Geschichte zeigt die Entwicklung in diesem Bereich: Steckten die 450 größten US-Unternehmen 1981 noch ganze 2 Prozent ihrer Gewinne in Aktienrückkäufe, so ist dieser Anteil zwischen 1984 und 1993 auf 25 Prozent und bis 2014 auf 51 Prozent angewachsen.
Hintergrund dieser Entwicklung ist die Stagnation der Weltwirtschaft, die vor allem zwei Gründe hat: Zum einen lassen sich auf dem Finanzsektor viel schnellere und größere Gewinne machen als in der Realwirtschaft und zum anderen können seit der Erklärung großer Finanzinstitutionen und transnationaler Konzerne für „too big fail“ unbegrenzte Risiken eingegangen werden.
Finanzcasino statt Produktion
Das wiederum führt dazu, dass Großkonzerne immer weniger in die Produktion investieren und sich stattdessen immer stärker am internationalen Finanzcasino beteiligen. So treiben die Konzernleitungen, die wegen des zunehmenden Investitionsrückgangs auf riesigen Bargeldbeständen sitzen, durch Aktienrückkäufe zum einen die Manager-Boni (die vom Aktienkurs abhängen) in die Höhe und lenken zum anderen von negativen Entwicklungen im eigenen Konzern ab (so hat der deutsche Siemens-Konzern nach einem Kurseinbruch seiner Aktien in diesem Jahr umgehend angekündigt, in den kommenden drei Jahren Aktien im Wert von bis zu 3 Milliarden Euro zurückzukaufen und den Kurs so wieder stabilisiert).
Die Abnahme von Investitionen bei gleichzeitigem verstärktem Rückkauf eigener Aktien hat neben der Verzerrung der Märkte auch den Effekt, dass immer weniger neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Da zugleich bestehende Arbeitsplätze durch permanente Rationalisierung abgebaut werden, nimmt die Arbeitslosigkeit zu und die Konsumkraft der Verbraucher schwindet, was die Realwirtschaft wiederum zusätzlich schwächt.
Dieser fatale Kreislauf ist symptomatisch für den gegenwärtigen Zustand des Weltwirtschaftssystem: Es wird in immer größerem Ausmaß von kurzfristigen Finanzinteressen beherrscht und siecht dabei ohne Aussicht auf Besserung vor sich hin.
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Ernst Wolff ist freiberuflicher Journalist und Autor des Buches „Weltmacht IWF – Chronik eines Raubzugs“, erschienen im Tectum-Verlag, Marburg.
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