Obwohl es derzeit viele Risiken gibt – vom Krieg im Nahen Osten über Trumps Handelskonflikt bis hin zur Wachstumsverlangsamung – scheint sich der Aktienmarkt derzeit von nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Die größte Angst hat die Wall Street jedoch vor dem heutigen Zinsentscheid der Fed und der anschließenden Pressekonferenz von Jerome Powell, in der er die Aussichten der Zentralbank erläutert. Analysten fürchten einen erneuten Ausverkauf von US-Aktien, nachdem der S&P 500 in der letzten Woche bis auf 2 Prozent an sein Allzeithoch geklettert war.
Wall Street: Anspannung vor der Fed
Am Aktienmarkt erwartet man kaum, dass die Fed auf der heutigen Sitzung die Zinsen senkt, nachdem sie diese in den letzten drei Stizungen konstant gehalten hat. Zwischen dem sogenannten Dot Plot, der die Entwicklung des Leitzinses aufzeigt, und der Pressekonferenz von Powell nach der Sitzung erwarten die Händler jedoch eine viel klarere Vorstellung davon, was die Zentralbanker denken, so ein Bericht von Bloomberg.
Die Wall Street hofft, dass die Fed die Zinsen im Herbst senkt. Swap-Händler rechnen mit einer Wahrscheinlichkeit von 56 % für eine Senkung im September. Die Befürchtung ist jedoch, dass dies nicht der Fall sein wird – und dass ein hawkisher Ton von Powell der Auslöser dafür sein könnte, dass der Aktienmarkt kurz vor seinem Allzeithoch erneut abstürzt.
„Wenn Powell signalisiert, dass die Fed weiterhin abwarten will, bevor sie die Zinsen senkt, wird der Aktienmarkt das nicht gutheißen und die Aktien werden wahrscheinlich abverkauft“, sagte Dennis Dick, Leiter der Marktstruktur und Eigenhändler bei Triple D Trading. „Sein Ton ist entscheidend. Handelskriege. Geopolitik. Wachstum. Niemand weiß, wie sich das alles entwickeln wird. Jedes Signal, das auf bevorstehende Zinssenkung hindeutet, würde eine Rallye an der Wall Street auslösen.“
Turbulentes Jahr für den Aktienmarkt
Es war ein turbulentes Jahr 2025 für den Aktienmarkt. Der S&P-500-Index hat in diesem Jahr um 1,7 % zugelegt und ist weniger als 3 % von einem Rekord entfernt. Im April wäre er beinahe in einen Bärenmarkt gestürzt, nachdem Präsident Donald Trump seine weitreichenden globalen Zölle vorgestellt hatte. Er erholte sich jedoch sofort eine Woche später, als er die meisten seiner geplanten Zölle aufschob. Aber auch an der Zollfront gibt es noch keine Entwarnung, denn die Frist läuft im Juli ab.
Seit dem 20. Mai ist der S&P 500 nur um 0,7 % gestiegen und hat sich in den letzten fünf Wochen seitwärts bewegt. Selbst die Kämpfe zwischen Israel und dem Iran haben den Aktienmarkt kaum aus den Angeln gehoben. Seit Beginn der israelischen Bombardierungen am vergangenen Donnerstag ist der S&P 500 nur um 1,6 % gesunken, während der Ölpreis auf den höchsten Stand seit Januar gestiegen ist. Allerdings sind der Optimismus im Welthandel, die robusten Inflationsdaten und die soliden Unternehmensgewinne bereits weitgehend eingepreist, sodass nur wenig Spielraum für höhere Aktienkurse bleibt.
„Wenn sich der Konflikt im Nahen Osten zu einem ausgewachsenen Krieg ausweitet, der zu einem dauerhaften Anstieg der Ölpreise führt, wird es für den Aktienmarkt in diesem Sommer eine lange Durststrecke geben. Denn dann dürfte der Inflationsdruck wieder zunehmen“, sagt Seth Merrill, Chief Investment Officer bei Crewe Advisors. Er geht davon aus, dass Aktien von Versorgern und Immobilien heute anfälliger für Schwankungen sind, da sie zinssensitiv sind.
Angst vor hawkisher Fed
Die Anleger werden deshalb die Zusammenfassung der Wirtschaftsprojektionen – so der offizielle Name des Dot Plots – genau studieren und Powells Äußerungen sorgfältig analysieren. Die Ankündigung der US-Notenbank ist für 14:00 Uhr in Washington (20:00 Uhr deutscher Zeit) geplant. Powells Pressekonferenz folgt 30 Minuten später.
An der Wall Street rechnet man weitgehend damit, dass die Fed eine hawkische Haltung einnehmen wird.
Anna Wong, leitende US-Ökonomin bei Bloomberg Intelligence, ist der Meinung, dass die US-Notenbank aufgrund der politischen Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Handels-, Steuer- und Regulierungspolitik der Trump-Administration „nicht zurückweichen wird”. Mark Cabana, Leiter der US-Zinsstrategie bei der Bank of America, schrieb am Montag in einer Mitteilung an seine Kunden, dass er und sein Team davon ausgehen, dass die Fed „bequem im Abwarten-Modus“ bleibt und nur eine Zinssenkung für das Jahr 2025 plant. Andrew Tyler, Leiter des Bereichs Global Market Intelligence bei JPMorgan, sieht ein erhöhtes Potenzial für einen Rückschlag am Aktienmarkt, der einen weiteren „Buy-the-Dip“-Moment schafft.
Fokus auf den Arbeitsmarkt
Andere Vermögensverwalter wie Jim Worden, Chief Investment Officer der Wealth Consulting Group, plädieren dafür, dass Powell den Schwerpunkt wieder auf den Beschäftigungsteil des doppelten Mandats der Fed legt.
Tatsächlich hat sich der Inflationsdruck seit der letzten Zinssenkung der Fed im Dezember verbessert und die US-Verbraucherpreise sind im Mai zum vierten Mal in Folge weniger stark gestiegen als erwartet. Dies geschieht jedoch zu einer Zeit, in der andere Bereiche der Wirtschaft nach den Zöllen Anzeichen von Schwäche zeigen. Dazu zählen ein Einbruch der Einzelhandelsumsätze im Mai, ein Rückgang der US-Dienstleistungen und des verarbeitenden Gewerbes sowie eine Verlangsamung des Beschäftiungswachstums.
„Wenn Powell einräumt, dass sich der Arbeitsmarkt abschwächt, während sich die Inflation abkühlt, ist das ein Kaufsignal für den Aktienmarkt, weil es bedeutet, dass er für Zinssenkungen im weiteren Verlauf des Jahres offen ist”, so Worden. „Aber wenn er irgendwie andeutet, dass es für den Rest des Jahres keine Zinssenkungen mehr geben wird, werden die Märkte verunsichert sein.“ Die Händler werden sich fragen: Was weiß er, was wir nicht wissen? Erwartet er einen Anstieg der Inflation in der zweiten Jahreshälfte?“
Wetten am Optionsmarkt
Die Optionsprofis wetten auf einen ruhigeren als den normalen Fed-Tag. An einem solchen Tag bewegt sich der S&P 500 laut den von Piper Sandler & Co. zusammengestellten Daten voraussichtlich um 1 % in die eine oder andere Richtung. Das ist der geringste implizite Ausschlag vor einem Fed-Tag seit Januar und liegt knapp unter der durchschnittlichen realisierten Bewegung von 1,1 % in den letzten 18 Monaten.
Dennoch sehen Wall-Street-Profis eine Chance, dass der Aktienmarkt bei einem hawkishen Auftritt fällt. Dick von Triple D Trading nutzt jeden Ausverkauf, um in hochfliegende Technologieaktien zu investieren, die mit dem Boom der künstlichen Intelligenz in Verbindung stehen. Worden von Wealth Consulting will hingegen günstigere große Technologieaktien wie Broadcom und Marvell Technology kaufen, wird aber warten, bis sich der Staub gelegt hat, falls der Aktienmarkt nach der Pressekonferenz des Fed-Chefs zu volatil wird.
Powell hat die Wirtschaft wiederholt als „solide” bezeichnet. Allerdings hat sich das Beschäftigungswachstum in den USA im Mai abgeschwächt. Der Aktienmarkt blendet dies jedoch aus, da Ökonomen die Wahrscheinlichkeit verringern, dass der Handelskrieg das wieder aufleben lässt, was die Händler am meisten fürchten: Stagflation.
Die Quintessenz ist, dass zu diesem Zeitpunkt so vieles unbekannt ist: der Zinspfad der Fed, das Ertragswachstum der Unternehmen und die Frage und wie sich die Politik des Weißen Hauses auf die amerikanischen Unternehmen auswirkt. Daher hat so ziemlich jede Interpretation der aktuellen Lage ihre Berechtigung.
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Jamie Cox, geschäftsführender Partner bei der Harris Financial Group, widerspricht dem Konsens und wettet, dass Powell bereits im Juli die Tür für eine Zinssenkung öffnen könnte.
„Die Märkte haben alles falsch eingepreist, wenn sie glauben, dass Zinssenkungen erst nach September erfolgen werden”, so Cox, der plant, in US-Tech-Aktien zu investieren, falls der Aktienmarkt am Mittwoch nachgibt oder sich erholt. „Ich hoffe, dass er sagt: ‚Die Inflationsdaten sind besser als erwartet ausgefallen‘, was für mich ein Zeichen dafür ist, dass die Angst vor einer Stagflation nicht so groß ist.“
FMW/Bloomberg
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Wenn alle was Negatives erwarten und sich absichern, geht’s also wie immer nach oben.
Nach unten würde ohnehin keinen Sinn machen. Alle Bullen sind dank Dauerrally massiv im Plus und werden maximal ihre Position auf Einstand verlieren. Da ist keine Liquidität zu holen.