Die Rally an den US-Aktienmärkten hat sich in der abgelaufenen Handelswoche noch einmal beschleunigt, da sich die Lage im von Trump angezettelten Handelskonflikt entspannt hat. Der breit gefasste S&P 500 nimmt bereits Kurs auf die Marke von 6.000 Punkten und liegt nur noch etwas mehr als drei Prozent unter seinem Rekordhoch. Es läuft eine Aktien-Rally, wie sie die Wall Street seit dem Corona-Crash nicht mehr erlebt hat. Neben beachtlichen Kursgewinnen erzeugt sie jedoch auch ein zunehmendes Gefühl des Unbehagens. Die eigentliche Herausforderung für die Aktienmärkte könnte jedoch gerade erst beginnen.
Wall Street: Rally mit Ablaufdatum?
Die kräftige Erholung der Aktienmärkte — angetrieben durch positive Signale beim Handelskonflikt mit den USA, anhaltend solide makroökonomische Daten und sinkende Volatilität — verwandelt die Risikoscheu in einen Zugzwang, mit dem sich zu diesem Zeitpunkt niemand wirklich wohlfühlt, so ein Bericht von Bloomberg. Nachdem man sich im vergangenen Monat allgemein auf das Schlimmste gefasst gemacht hatte, müssen Portfolios nun einen Spagat bewerkstelligen. Genug Aktienquote, um von der Rally nicht abgehängt zu werden. Aber auch nicht zu viel Risiko, um bei der nächsten Trump-Tirade nicht in einer fiesen Bullenfalle zu stecken.
“Bis wir echte Klarheit über das US-Wachstum bekommen, fühlt sich diese Rally an wie gemietet und nicht wie ein langfristiges Halten,” sagt Haris Khurshit, Chief Investment Officer bei Karobaar Capital. “Da die Fundamentaldaten weiterhin unklar sind und der Zollstreit lediglich ausgesetzt — nicht gelöst — ist, handelt es sich hier nicht um einen neuen Bullenmarkt. Und obwohl wir opportunistisch bleiben, verwechseln wir dies nicht mit einer klaren makroökonomischen Wende.”
Die starke Gegenbewegung von den Tiefstständen im April war kaum vorhersehbar. Jeder mit einem normalen Risikomanagement war daher nicht oder wenig in der Lage, vollumfänglich daran teilzuhaben. Die Geschwindigkeit des Rückgangs und der sich anschließenden Erholung ähnelt stark dem Bärenmarkt von 2020. Damals brauchte der amerikanische S&P 500 lediglich gut 100 Tage zur vollständigen Erholung eines 35%-Einbruchs. Und während der Dax bereits neue Rekordstände erreicht hat, könnte es an der Wall Street nur noch eine Frage von Tagen sein, sollte der Kaufdruck anhalten.
Den Druck spüren
Der starke Kurssprung am vergangenen Montag, nachdem die USA und China am Wochenende zuvor einen Waffenstillstand vereinbart hatten, war ein hervorragendes Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen skeptische Anleger konfrontiert sind. Aktien, die vom globalen Wachstum und den China-sensiblen Sektoren abhängig sind, verzeichneten im Zuge dieser Nachrichten eine Welle von Käufen durch das schnelle Geld, während defensive Titel das Nachsehen hatten. In den ersten Wochen im April waren es vor allem die Privatanleger – das sogenannte „dumme Geld“ –, die bei Aktien zugegriffen haben, während die institutionellen Anleger – das „Smart Money“ – noch verkauften oder an der Seitenlinie standen.
Von Bloomberg zusammengestellte Daten zeigen, dass viele risikoreiche Titel, die seit dem Höchststand des S&P 500 im Februar Verluste von bis zu 60% erlitten hatten, wieder im Trend liegen. “Aktien werden aufgrund der Abkühlung des Handelskriegs wieder nachgefragt, aber es sind die weniger hochwertigen Titel, die die Kurse antreiben”, bemerken die Aktienhändler von Goldman Sachs. In der Folge sah der Trading-Desk der Investmentbank am Montag einen Anstieg der Kundenaktivität um 71%.
Sogenannte systematische Strategien heizten die Rally zuletzt zusätzlich an. Diese Investorengruppe nutzt quantitative Modelle für Aktienkäufe und kümmert sich nicht im Geringsten um das Risiko der nächsten Schlagzeile. Diese Zuflüsse treiben die Aktienmärkte in Bereiche, in denen das Chance-Risiko-Verhältnis wenig bis gar nicht attraktiv ist für all jene, die klassische Bewertungen verwenden.
Erstaunlicherweise waren selbst US-Kleinanleger — oft die ersten, die aufgeben und die letzten, die sich einer Rally anschließen — durchweg mit Käufen beschäftigt, trotz oder gerade wegen der enormen kurzfristigen Schwankungen an den Aktienmärkten.
Unterpositionierung der Anleger
Professionelle Anleger scheinen jedoch weit davon entfernt zu sein, Aktien einen Freifahrtschein auszustellen. Daten der Commodity Futures Trading Commission (CoT-Daten) zeigen, dass Vermögensverwalter weiterhin dünne Positionen in S&P 500-Futures halten.
Unterdessen zeigten Daten des Prime Desk von Goldman Sachs, dass globale Aktien am Dienstag die zweitgrößten nominellen Nettokäufe von Hedgefonds seit fünf Jahren verzeichneten. Dies sei “auf Leerverkaufseindeckungen und in geringerem Maße auf Long-Käufe zurückzuführen”, schrieb der Trading Desk in einer Mitteilung an seine Kunden.
Diese Positionierungslücke bedeutet, dass der Kaufdruck an der Wall Street möglicherweise noch nicht vorbei ist. Die Strategen der Deutschen Bank argumentieren, dass allein die Ankündigung der Zollreduzierung zwischen den USA und China eine erneute Risikoverlagerung rechtfertigt. “Es übertrifft alles, was die Bören im März hätte erwarten können”, schreiben sie. “Bleiben Sie bullisch.”
Einen kleinen Rückschlag für die Wall Street gab es jedoch nach Börsenschluss am Freitag. Nachdem die Ratingagentur Moody’s die Kreditwürdigkeit der USA aufgrund einer steigenden Staatsverschuldung und einer höheren Zinslast herabgestuft hatte, gaben US-Aktien nach und die Renditen von Staatsanleihen stiegen.
V-förmige Erholung vor Abschluss
Technische Indikatoren deuten ebenfalls darauf hin, dass die Rally an der Wall Street weitergehen könnte. Die Marktbreite ist nicht überzogen, und potenzielle Wendepunkte wie der 200-Tage-Durchschnitt leisteten wenig Widerstand.
Zudem neigen V-förmige Erholungen dazu, vorsichtige Anleger zu benachteiligen, da sie auf Rücksetzer warten, die nicht kommen. Daten von SentimenTrader zeigen, dass die Performance zwar kurzfristig schwach ist, aber langfristig die ruhige Hand belohnt.
“Angesichts der Entwicklung seit dem Tief im April scheint eine nachhaltige Rally wahrscheinlicher als sonst zu sein”, so SentimenTrader. “Natürlich gibt es keine Garantie, wir haben es nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Die gute Nachricht ist, dass sich diese Wahrscheinlichkeiten zugunsten der Bullen verschoben haben.”
Doch diese Kursjagd birgt auch Risiken. Je stärker die Rally, desto asymmetrischer wird die Situation — höhere Preise und geringere Volatilität erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer schmerzhaften Trendwende, wenn die guten Nachrichten ausbleiben. Das Risiko-Ertrags-Verhältnis verschiebt sich daher für viele Anleger gerade in Richtung eines unattraktiveren Niveaus.
Dies gilt insbesondere, da der Rückenwind dieses Aufschwungs noch nicht in harten Daten begründet ist. Anzeichen dafür, dass die Wirtschaft selbst durch die womöglich kurzlebigen Zölle tatsächlich getroffen wurde, könnten den Optimismus schnell schwinden lassen und die Aktienkurse schließlich mit einem Käuferstreik konfrontiert sehen.
„Es ist nicht alles perfekt da draußen“, warnte Charlie McElligott, Managing Director für Cross-Asset-Strategie bei Nomura Securities International. Die Dinge könnten sich für die Aktienmärkte erneut drehen, wenn die Frist für die Aussetzung der Zölle näher rückt und US-Präsident Donald Trump „sich nicht beherrschen kann und erneut mit dem Säbel rasselt“. Angesichts der anhaltenden Unsicherheit und der stark gestiegenen Kurse beginnt für die Anleger erst jetzt die eigentliche Herausforderung.
FMW/Bloomberg
Kommentare lesen und schreiben, hier klicken