Ein selten leeres Plenum wird zum Symbol absoluter Macht: Xi Jinping zeigt, dass selbst Stille politisch sprechen kann. Im Schatten der roten Fahnen wurde das vierte Plenum des Zentralkomitees zu einer Demonstration stiller Autorität in China. Xi Jinping hat verstanden, dass Leere stärker wirken kann als jede Rede. Wo früher Diskussion und Abstimmung galten, steht heute das Bild des allein Herrschenden. Das Plenum wurde zu einer Inszenierung seiner Person und zu einem Spiegel der inneren Spannungen im Machtapparat.
Leere Listen, volle Macht: Xi mit politischer Säuberung
In der vergangenen Woche trat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas zu seiner vierten Plenartagung zusammen, dem höchsten beschlussfassenden Organ zwischen den Parteitagen, um in ernster und verantwortungsvoller Weise die grundlegenden Leitlinien des 14. Fünfjahrplans zu beraten, der planmäßig im kommenden März auf der Tagung des Nationalen Volkskongresses im Rahmen der „Zwei Sitzungen“ verabschiedet werden soll.
Was sich wie schönste DDR-Prosa anhört und zu einem plötzlich einsetzenden Gähnen führt, war in Wahrheit eine Machtdemonstration Xi Jinpings. Der Inhalt des Fünfjahresplans für China – technologische Autarkie in Bereichen wie Künstlicher Intelligenz, Halbleitern und Raumfahrt, eine verstärkte grüne Transformation mit Fokus auf Emissionsreduktion, Maßnahmen zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen durch eine „geburtenfreundliche Gesellschaft“, Förderung des Inlandsverbrauchs sowie Strategien zur Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz gegenüber internationalen Spannungen – geriet dabei zur Nebensache.
Die Bombe platzte am vergangenen Wochenende. „Die größte Überraschung beim vierten Plenum war vielleicht die hohe Zahl abwesender Mitglieder“, bemerkte Bill Bishop. Von den 205 ordentlichen Mitgliedern und 174 Kandidaten erschienen lediglich 168 ordentliche Mitglieder und 147 Kandidaten auf der offiziellen Liste. Gleichzeitig wurde der Ausschluss von insgesamt zehn Delegierten bestätigt, allesamt hohe Militärs. Neunzehn gelten als vermisst, über fünfunddreißig Delegierte gibt es keine Angaben. Damit ist dieses Plenum das am schlechtesten besuchte seit mindestens 1978, als die Anwesenheitsquote noch bei 84,4 Prozent lag.
Das Bild der Leere: Macht durch Inszenierung
Die Ankündigung erfolgte nur durch das Verteidigungsministerium und nicht durch die offiziellen Medien. Dafür ließ Xi Jinping Bilder sprechen. Die Berichte vom Plenum im staatlichen Fernsehen zeigten vier komplett leere Sitzreihen. „Leere Stühle an leeren Tischen“, wie Neil Thomas vom Asia Society Policy Institute schrieb.
Niemand sonst in der Kommunistischen Partei hat es bisher gewagt, vier leere Reihen im offiziellen Fernsehen zu zeigen. Das ist die triumphale Geste eines Machthabers, der sagen will: Ich bin die Partei. Zugleich offenbart sie die prekäre Lage des Machtgleichgewichts: Xi Jinping muss visuell demonstrieren, dass Abweichungen existieren und sanktioniert werden. Politikwissenschaftliche Analysen autoritärer Systeme zeigen, dass solche Inszenierungen der Macht häufig dazu dienen, Loyalität zu sichern und Kontrolle zu signalisieren. Mit Max Webers Typologie der Herrschaft betrachtet, bewegt sich Xi Jinping immer weiter vom rational-legalen und traditionalen Typus hin zum charismatisch-diktatorischen Modus, der die Loyalität zur Person über die Loyalität zur Institution stellt.
Wenn Loyalität gefährlich wird: Gefallene Generäle
Wobei hier die Pointe kommt: Bei den ausgeschlossenen Militärs handelt es sich hauptsächlich um Mitglieder seiner eigenen Fujian-Clique, die Xi Jinping höchstpersönlich gerade wegen ihrer Loyalität befördert hatte. Noch nie hat seit Mao ein Führer Chinas so viele Generäle entlassen, die er selbst ernannt hat – nämlich 14 von 79.
Dass Xi Jinping ausgerechnet jene Männer fallen lässt, die er selbst als Inbegriff der Loyalität aufgebaut hat, ist mehr als eine Personalentscheidung. Es ist der Moment, in dem Loyalität als Herrschaftsprinzip ihren Wert verliert. Hannah Arendt beschrieb in ihrem Werk über totalitäre Systeme, dass eine Macht, die absolute Gefolgschaft verlangt, am Ende ihre eigenen Gläubigen verschlingt, weil im Zwang zur Loyalität kein Raum für Kompetenz, Kritik oder Realitätssinn bleibt.
Xi Jinpings System stößt hier an seine innere Grenze. Die Entlassung seiner Vertrauten ist das Eingeständnis, dass bedingungslose Loyalität Macht sichern, aber keine Armee führen kann – schon gar nicht eine, die auf den Ernstfall Taiwan vorbereitet werden soll. Zwischen dem Bedürfnis, Kontrolle zu wahren, und der Notwendigkeit fähiger Entscheidungsträger öffnet sich ein Abgrund.
Auf strategischer Ebene entsteht ein Konflikt zwischen Machterhalt und militärischer Effektivität in China. Xi Jinping demonstriert, dass niemand über der Partei steht, aber gleichzeitig verschwindet Erfahrung aus dem Apparat. Jede Beförderung und jeder Ausschluss senden Signale, die intern wie extern wahrgenommen werden.
Auf kultureller Ebene greift Xi Jinping auf konfuzianische Codes zurück. Härte gegenüber dem eigenen Lager gilt als höchste Form moralischer Integrität. Wer abweicht, wird nicht nur politisch entfernt, sondern öffentlich sichtbar sanktioniert. Loyalität wird zum Akt moralischer Pflicht, nicht zur Versicherung persönlicher Nähe. Die leeren Stühle werden zu Symbolen dieser doppelt verschränkten Logik von Furcht und Respekt. Zugleich schwingt hier ein subtiler Hinweis auf Ren mit, das konfuzianische Ideal von moralischer Menschlichkeit. Paradox eingesetzt bedeutet es, dass Gehorsam und Härte zur höchsten Tugend werden, selbst wenn Mitgefühl und moralische Güte auf der Strecke bleiben.
Stärke durch Schwäche – Xi´s gefährliche Balance
Xi Jinping stärkt sich öffentlich durch die Inszenierung der leeren Reihen und die dramatische Demonstration von Disziplin. Zugleich schwächt er sich strukturell, weil Loyalität allein nicht alle Kompetenz ersetzt.
Dabei zeigt die Genese des Plenums deutlich, dass Xi Jinping auf die Zusammenarbeit mit den anderen Fraktionen angewiesen ist. Selbst in der chinesischen Presse wird auffällig oft betont, dass die Beratungen „intensiv und sorgfältig“ gewesen seien. Das klingt wie ein Euphemismus für Konflikt. Die Sitzung selbst musste Xi Jinping um ein Jahr verschieben. Zu groß waren die unterschiedlichen Auffassungen, wie die wirtschaftliche Schwächephase überwunden werden sollte. Öffentlich ausgetragen wurde diese Debatte von Ökonomen, Think Tanks und akademischen Beiträgen, die alternative Vorschläge brachten oder einfach nur Kritik an der wirtschaftlichen Entwicklung übten. Anschließend wurden sie abgestraft, wie Zhu Hengpeng, ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler und vor seiner Degradierung Stellvertretender Direktor des Institute of Economics of the Chinese Academy of Social Sciences (CASS).
Das Ende der Kollektiven Verantwortung: Xi Jinpings Alleinherrschaft
Xi Jinping hat Deng Xiaopings Modell kollektiver Führung systematisch demontiert. Aus seiner Sicht war es die Quelle der Lähmung und Korruption, die die Ära Hu Jintaos prägte. Die Macht war verteilt, die Disziplin schwach, die Verantwortung unklar. Xi Jinping hat das Zentrum wiederhergestellt, indem er es personalisiert hat. Damit hat er kurzfristig Ordnung geschaffen und die Partei diszipliniert, aber den institutionellen Lernmechanismus zerstört, der nach Mao die Grundlage für die Stabilität der Reformära in China bildete. Die Partei hatte sich über Jahrzehnte als lernfähige Organisation bewährt. Sie korrigierte Fehler, passte sich an, absorbierte Schocks. Diese Fähigkeit beruhte auf kollektiver Führung und einem Minimum an interner Konkurrenz. Heute hat eine vertikale Struktur ihre Stelle eingenommen, die nur noch auf Loyalität reagiert. Fehler werden nicht korrigiert, sie werden verdrängt.
Damit Xi Jinping hat die Machtbalance verschoben: von der Organisation zur Person, von institutioneller Kontinuität zu persönlicher Autorität. Mit der Ausschaltung von Li Keqiang verschwand das letzte Korrektiv innerhalb der Führung. Damit bleibt Xi Jinping zwar unangefochten, aber ohne Korrekturinstanz – ein System, das Fehler nicht mehr erkennen kann, weil niemand sie benennen darf.
Die Partei wirkt geeint, aber sie ist stumm. Konflikte können nicht mehr ausgehandelt, sondern nur noch unterdrückt werden. Sie ist diszipliniert, aber nicht lernfähig. Der Mittelbau ist erstarrt, zu Befehlsempfängern und Aktenschubsern geworden. Die Macht Xi Jinpings beruht nicht mehr auf Konsens, sondern auf der Ausschaltung von Alternativen. Sie ist damit vollkommen – und verletzlich zugleich.
Was Xi Jinping beseitigen wollte, war die Lähmung des Hu-Systems. Was er geschaffen hat, ist ihre Vollendung. Das System Xi Jinping verhindert die Reformen, die es selbst braucht, um zu überleben. Die doppelte Zirkulation, gedacht als Befreiung von der Abhängigkeit des Westens, ist zur inneren Blockade geworden. Der Staat konsumiert sich selbst.Chinas Wirtschaft hat sich von der Corona-Krise nie erholt, weil das System, das sie heilen sollte, selbst zur Krankheit geworden ist.
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Welch ein fantastische wissenschaftliche Analyse! Chapeau und danke dafür.
…das Vorgehen klingt für mich eher so, als ob Xi den USA in Sachen Personalpolitik entgegenkommen musste, um einen Deal zu erreichen…also eher ein Zeichen für Schwäche…
Herr Ennoson macht hier aus einer Mücke einen Elefanten. 168 von 205 ordentlichen Mitgliedern sind
immerhin 81,95 Prozent. Im deutschen Bundesstag gab es schon öfter Beschlussunfähigkeit wegen
Anwesenheit unter 50 Prozent.
@Oskar
Und was ist mit Deutschland?
Und was mit den USA?
Schon wieder diese sinnbefreiten Whataboutismen zur Ablenkung. Wie originell!
Meine Güte, muss man empörten BRICS-Freunden denn alles erklären?
Hier geht es nicht um Beschlussfähigkeit oder Anwesenheitspflicht bei einer ganz normalen Plenarsitzung in einer Demokratie.
Ganz im Gegenteil, die Rede ist von Loyalität, Kontrolle und Machtdemonstration: 10 Delegierte wurden ausgeschlossen (allesamt hohe Militärs), 19 gelten als vermisst, bei 35 existieren keine Angaben. Das ist schlicht und einfach politische Säuberung durch einen absolutistischen Diktator und Alleinherrscher.
Der Despot muss visuell durch leere Reihen demonstrieren, dass Abweichler und Kritiker existier(t)en, die konsequent sanktioniert werden, weil nichts als servile und devote Gefolgschaft erwünscht und erlaubt ist.
Es geht um Furcht, Respekt, Disziplin und bedingungslosen Gehorsam.
Kurz und gut, um die Etablierung eines totalitären Machtsystems, basierend auf Angst und Repressalien.
@Oskar beweisst, dass er keine Ahnung von chinesischer Politik hat. Das ZK ist kein Parlament, das ist der Nationalkongress. Zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Parteitagen ist das Zentralkomitee das höchste Organ der Partei, und seine Plenarsitzungen dienen dazu, strategische Weichenstellungen zu bestätigen, politische Kampagnen zu legitimieren oder Personalentscheidungen abzusichern.Mit einer deutschen Institution lässt sich das am ehesten mit einer Mischung aus Parteitag und Bundeskabinettssitzung vergleichen
Das deutsche Parlament, also der Bundestag, ist im internationalen Vergleich ein klassisches Arbeitsparlament. Das bedeutet, dass die eigentliche politische Arbeit weniger im Plenarsaal stattfindet, sondern vor allem in den Ausschüssen, Fraktionen und Arbeitsgruppen. Dort werden Gesetzentwürfe verhandelt, Kompromisse ausgearbeitet und fachliche Details abgestimmt. Die oft zitierte „leere“ Plenarsitzung des Bundestags ist deshalb kein Zeichen von Desinteresse, sondern Ausdruck dieser arbeitsteiligen Struktur: Die Abgeordneten müssen nicht ständig im Saal sitzen, sondern arbeiten parallel in den Ausschüssen, an Gesetzen oder in ihren Wahlkreisen. Das Plenum dient in Deutschland daher vor allem der öffentlichen Debatte und formalen Beschlussfassung, nicht der eigentlichen Entscheidungsfindung.
Ganz anders ist die Rolle des Plenums im chinesischen System. Das Plenum des Zentralkomitees ist dort kein Arbeits-, sondern ein Demonstrationsparlament. Anwesenheit ist Pflicht, Zustimmung obligatorisch. Es geht nicht um Diskussion oder Detailarbeit, sondern um politische Symbolik, Geschlossenheit und Loyalität. Während der Bundestag pluralistische Interessen ausgleicht und Kompromisse aushandelt, bestätigt das ZK-Plenum einheitlich den bereits festgelegten Kurs der Parteiführung. Insofern ist die physische Anwesenheit der Delegierten in Peking ein Ausdruck politischer Gefolgschaft und dient der Inszenierung innerparteilicher Einheit – das Gegenteil der funktionalen Arbeitsteilung, die den Bundestag prägt.
Oskar sollte also auch noch Nachhilfe nehmen, wie das deutsche politische System funktioniert