Um eine Hürde erst gar nicht aufzubauen: Es ist das Verdienst von Marcel Fratzscher, die Corona-Krise und ihre Auswirkungen in seinem ersten Buch zu diesem Thema in einer Weise aufbereitet zu haben, dass der Gegenstand auch für Menschen mit eingeschränktem Sprachverständnis problemlos und intellektuell barrierefrei zugänglich ist. Fratzscher schreibt in sogenannter „einfacher Sprache“. Sein Ziel ist unausgesprochen, Nichtakademiker und bildungsferne Schichten inklusiv mitzunehmen. „Als Wissenschaftler ist es meine Aufgabe, nicht zu glauben oder zu fühlen, sondern Wissen zu schaffen und dieses zu teilen“ (S. 20), schreibt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) einleitend, um sich mit Schwung ans Werk zu machen.
Fratzscher, Corona, die Märkte, Transformation und vieles mehr
Fratzscher wirbt für einen neuen Humanismus. Er meint damit nicht etwa die geistige Bewegung des ausgehenden 15., beginnenden 16. Jahrhunderts, mit intellektuellen Jahrhundertgrößen wie Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon oder Thomas Morus. Fratzscher reduziert vielmehr bewusst den historischen „Humanismus“ auf „Humanität“, sprich: Nächstenliebe, zumal auf die Goldene Regel: „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu.“
Diese brauche es, so Fratzscher, gerade auch in den internationalen Beziehungen, den Märkten und überall, damit „Freiheit, Gerechtigkeit und Humanismus“ gelingen (Seite 17). Der Autor wirbt unter anderem für eine „inklusive soziale Marktwirtschaft“ (Seite 83), für offene Grenzen, fairen Wettbewerb, robuste Globalisierung und einen klugen Multilateralismus (Seite 183).
Den Inhalt des Buches kursorisch für das interessierte Publikum widerzugeben, sprengt den Rahmen dieser Besprechung. Nur soviel sei verraten: Fratzscher ist auf der Höhe der Zeit. Er argumentiert intrinsisch, inklusiv, nachhaltig und resilient. Er erwähnt die Black-Lives-Matter-Bewegung (Seite 83) ebenso wie Fridays for Future (Seite 147), den Virologen Christian Drosten (Seite 191), Homeschooling (S. 123), Klimawandel und Biodiversität (Seite 143). Der Autor wirbt außerdem für einen „Lebenschancenkredit oder Lebenschancebudget“ in Höhe von 20.000 Euro für junge Menschen, um Freiheit, Chancengleichheit und Eigenverantwortung zu stärken (S. 157).
Fratzscher macht Vielschichtigkeit einschichtig
Sowohl am Anfang als auch am Ende seiner Ausführungen geht Fratzscher auf die Rolle der Wissenschaft im 21. Jahrhundert näher ein: Die Wissenschaft schaffe „neues, relevantes Wissen für relevante Entscheidungen. Ihre großen Stärken sind dabei Neutralität und Unabhängigkeit, mit denen sie objektive Fakten etablieren kann“ (S. 187). Der Autor vermittelt, ohne autoritär zu sein, gerade bildungsfernen Bevölkerungsteilen das sichere Gefühl, das in Zeiten von Fake News und verwirrender Komplexität auf die Wissenschaft und vor allem die Wissen schaffenden Wissenschaftler unbedingt Verlass ist.
Grundlagenforschung sei wichtig, so Fratzscher, „um langfristig die Grundlage für neues Wissen zu legen […]“ (S. 195). Es sind gerade Sätze wie dieser, die bei der Lektüre eine vom Inhalt unabhängige Befriedigung schaffen. Komplexität, wenn sie durch Fratzscher durchgeht, wird auf faszinierende Weise eindimensional: Fratzscher macht Vielschichtigkeit einschichtig. Indem der Präsident des DIW verwirrende, hochkomplexe Fakten konsequent shortet, macht er ein Angebot gerade an die Abgehängten und Schwächsten in unserer Gesellschaft. Die Juroren des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises setzten das Buch deshalb zu Recht auf die Shortlist 2020.
Bibliographische Fakten
Fratzschers Darstellung umfasst 223 Seiten mit 28 Endnoten. Um sie nachzuprüfen, ist der Weg zum Bücherregal, der gerade für bildungsferne Schichten eine Hürde darstellt, nicht notwendig. Praktisch alle Endnoten sind dank Google im Internet mühelos einsehbar. Fratzschers Literaturbasis umfasst 119 Titel, davon 20 Titel von Marcel Fratzscher selbst, sprich: knapp 17%. Diese Unwucht ist beabsichtigt und der Konzentration auf die Internetliteratur geschuldet. Der Inhalt ist in 4 Teilen und 9 Kapiteln gegliedert und kommt in leichtverdaulichen Happen in Gestalt von 45 Abschnitten daher. Letztere umfassen überwiegend circa drei Seiten, nur selten zehn (Seite 106–115). Auf komplizierte und den Leser möglicherweise verwirrende Graphiken oder Tabellen verzichtet der Autor konsequent.
Errata
Nur wenige sachliche und sprachliche Schnitzer fielen dem Rezensenten auf: Die Formel „Entzauberung der Welt“ durch die moderne Wissenschaft formulierten nicht die kritischen Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, sondern der Soziologe Max Weber (S. 17).
Die zitierten Schätzungen des DIW Berlin, die deutsche Wirtschaft werde 2020 und 2021 jeweils um 2% wachsen, waren falsch (2020: – 4,9%; 2021: + 2,7% gegenüber dem Vorjahr) (S. 92).
Die Unterscheidung zwischen Solvenz und Liquidität ist sachlich und etymologisch hinterfragbar (Seite 88). –
John Maynard Keynes Beauty-Contest-Vergleich ist legendär: Das Geheimnis des erfolgreichen Börsengeschäfts liege darin, so Keynes, zu erkennen, was der Durchschnittsbürger glaube, dass der Durchschnittsbürger tue. Fratzscher gendert den Vergleich politisch korrekt zu „Gewinner oder die Gewinnerin“, doch hatte Keynes natürlich mit seinem Schönheitswettbewerbs-Vergleich die männerdominierte Börsenwelt seiner Zeit vor Augen (Seite 43). Ein Personen- und Sachregister fehlt.
Resümeé
Marcel Fratzschers Apell für mehr Humanismus in Wirtschaft und Gesellschaft ist sprachlich reduziert, insofern leicht lesbar, die Tektonik gewollt gleichförmig. Doch trübt das flache Licht in diesem Fall Belehrung nicht. Vielmehr wächst Erstaunen, wie überschaubar die Welt der Finanzen und Politik gesehen werden kann. Das ist tröstlich in Zeiten wie diesen. Fratzschers Buch „Die neue Aufklärung“ ist der vergessen geglaubten Tradition der „Volksaufklärung“ verpflichtet. Jeder kann es problemlos verstehen. Es sollte in keiner Stadt- oder Krankenhausbücherei fehlen.
Marcel Fratzscher, Die neue Aufklärung. Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise. Berlin Verlag 2020. Euro 22,–
Von Heinrich-Böll-Stiftung from Berlin, Deutschland – Marcel Fratzscher, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=97999799
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Fratzschers Buch sollte in keiner Stadt- oder Krankenhausbücherei fehlen..
Anmerkung:
Wenn dieses Buch in einer Krankenhausbücherei ausgelegt werden sollte, dann aber bitte mit dem Hinweis, dass diese Lektüre für Herzpatienten ungeeignet ist ;-)
Es ist wirklich erstaunlich wie lange der professorale Unsinn des Herrn Fratzscher ausgebreitet wird, ohne dass sich die Geldgeber der Uni sich den Aussagen mal annehmen. Oder heisst Professur = alles und das ewig erlaubt?
Meine Hochachtung vor dem Autor dieses Artikels, dass er sich diese Schwarte zu Gemüte geführt hat. Ich hätte das nicht geschafft… ;-)