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Börse: Prognosen – und Erfahrungen aus der Geschichte

Wie jedes Jahr gibt es Prognosen für die Börse. Ein uralter Kalauer aber lautet: „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Trotzdem werden diese immer wieder abgegeben, der Mensch giert danach.

Aber Wissenschaftler, wie der Nobelpreisträger für Wirtschaftspsychologie Daniel Kahnemann, hat in seinem Lebenswerk schon lange Voraussagen in Politik und Wirtschaft als unseriös bezeichnet in einem Umfeld, welches er als „Zero-Validity Environment“ bezeichnet hat. Auch historische Vergleiche hinken immer mehr, gerade Corona hat gezeigt, dass es für diese Phase keine ökonomische, historische Blaupause gibt. Immer wieder werden auch Vergleiche mit den 1920-er-Jahren herangezogen (roaring 2020s), was ziemlich unsinnig ist, wie auch Professor Straubhaar, ein Volkswirt der Universität Hamburg betont. Prognosen der Ökonomen seien immer weniger von Wert, sagt einer, der selbst in diesem Umfeld lehrt. Nachfolgend ein paar Auszüge aus seinem Essay in der „Welt“ in der Silvesterausgabe.

Corona und der Wert von Prognosen

Bereits im Frühling habe ich in Artikeln bei FMW darauf hingewiesen, dass wir nach dem Lockdown die ungewöhnlichsten Entwicklungen bei Wirtschaftsparametern aller Zeiten sehen werden. Grund war zum einen der globale Lockdown, der zeitweise vier Milliarden werktätige Menschen in eine häusliche Quarantäne gezwungen hatte – und die Finanzmathematik. Abstürze über 50/70 oder gar 95 Prozent (Fluggesellschaften) müssen selbst bei moderaten Erholungen zu astronomischen Wachstumswerten führen. Mein damaliges Lieblingsbeispiel: Der Einbruch der Passagierzahlen um 95 Prozent bedingt in der Zukunft gigantische Wachstumszahlen, selbst bei plus 500 Prozent ist man noch lange nicht bei den Vorjahreswerten angelangt. Corona-bedingte Einbrüche in Freizeit, Kultur und Tourismus gab es in dieser Größenordnung nicht einmal während des Zweiten Weltkriegs.

Viele haben nicht an eine rasche Erholung in Teilbereichen geglaubt, vor allem, weil das menschliche Gehirn Entwicklungen linear weiterschreibt. Wie oft von Anthropologen in Zusammenarbeit mit Mathematikern in der Corona-Krise dargelegt, das Exponentielle ist nichts für den Menschen.

Aber bereits bei der Vorhersagen von niedrigen Prozentwerten im Wachstum der BIP-Quartalszahlen war „heiteres Beruferaten“ angesagt.

Das Ausnahmejahr 2020 und die unsinnigen Prognosen

Professor Straubhaar, ein Mann der Volkswirtschaft, geht in seinem Kommentar hart mit der eigenen Zunft ins Gericht. Er nennt selbst die Prognosen von Sachverständigen als eine Selbstüberschätzung der eigenen Möglichkeiten. Manche Prognosen basierten auf reinen Vermutungen und ähnelten eher Horoskopen. Hier einige weitere Schlagsätze über die Probleme, die sich aus einer Gesundheitskrise für die eigene Zunft ergeben haben:

  • Niemand hat auch nur im Entferntesten kommen sehen (können!), was Corona verursacht. Ebenso wusste und weiß keiner, wie lange die Pandemie und vor allem deren Bekämpfung die Welt noch in Atem halten wird und was die Folgen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sein werden.
  • Die Kritik an der Prognosequalität zielt jedoch nicht auf Personen – auch nicht auf Sachverständigenräte oder Wirtschaftsforschungsinstitute. Es geht um die Methoden und Verfahren, mithilfe derer die Voraussagen getroffen werden.
  • Alle gängigen Prognosen basieren auf einer Extrapolation der Vergangenheit. Das geht aber nur, wenn das Vergangene zumindest als grobe Näherung für das Kommende Bestand hat. Eine gewisse Stabilität der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen gegeben ist. Diese Voraussetzung war lange erfüllt.
  • Was ist aber, wenn der Wandel rasend schnell erfolgt, nichts und niemanden verschont und über Nacht alles ändert – so wie es 2020 mit der Pandemie der Fall war? Dann sind Erfahrungswerte kein guter Kompass. Das Beispiel Digitalisierung mit Homoffice, Onlinehandel, Videokonferenzen, Fernunterricht, Datenbearbeitung
  • Die Pandemie sollte eigentlich auch den Prognostikern die Augen öffnen, dergestalt, dass die Vergangenheit immer weniger in der Lage ist, sinnvolle und brauchbare Erkenntnisse für die Zukunft zu liefern.

Börse und Prognosen: Der Vergleich mit den 1920er-Jahren

Die jetzige Lage verleitet auch Nichtökonomen dazu, immer wieder Vergleiche zu früheren Krisen herzustellen – so etwa der Vergleich mit den 1920er-Jahren an der Börse. Straubhaar geht hier auf die Rolle der Notenbanken ein, die ein gewaltiges Experiment durchführen.

Niemand weiß, wie sich die Verhaltensweisen von Menschen und Gesellschaften ändern, wenn nicht wie bisher Millionen und Milliarden, sondern Billionen Eurobeträge zum Maß aller monetären Dinge werden, die Politik das Kommando über die Marktwirtschaft übernimmt und die Zentralbanken den Zinsmechanismus außer Kraft setzen.
Aber die Experten geben die Prognosen für die Weltwirtschaft selbst bis zur Nachkommastelle an. Die Zukunft wird anders sein, dafür könne es kein Vorwissen, keine Erfahrung geben.

Dazu Professor Straubhaar:

Um bei aller Ungewissheit dennoch eine Voraussage treffen zu können, bedienen sich viele Prognostiker gerne der Geschichte. Historische Ereignisse werden aus der Erinnerungskiste längst vergangener Tage hervorgekramt. Beispielsweise vergleichen viele die 2020er- mit den 1920er-Jahren.
Aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts verallgemeinerbare Entwicklungen für das 21. Jahrhundert ableiten und prognostizieren zu wollen, sprengt jedoch jegliche wissenschaftliche Dimension.
Man kann aus der Geschichte Muster erkennen und Lehren ziehen. Sie ist aber immer weniger in der Lage, vorauszusagen, was sein wird. Deshalb führt eine naive Geschichtsgläubigkeit zu Fehlprognosen. Zu oft wird der Erkenntnisgewinn aus der Geschichte überschätzt. Zu häufig wird er von Interessenvertretern instrumentalisiert und manchmal auch missbraucht, um mit Verweis auf scheinbare Gesetzmäßigkeiten der Vergangenheit eigenes Tun zu rechtfertigen.
Geschichte wiederholt sich nicht. Vergangenheit ist kein Vorläufer der Zukunft. Alte Weisheiten helfen nicht weiter. Sie führen in die Irre. Viele Zusammenhänge verlaufen künftig völlig anders, als es früher der Fall war. Prognostiker stochern zunehmend nur noch im Nebel von Ungewissheit und Unsicherheit. Das gilt auch und gerade für die Börse!

Was meint Straubhaar zum Jahr 2021, zur Zukunft allgemein?

Zur Zeitenwende in eine Nach-Corona-Epoche der Digitalisierung und der Datenökonomie gehört eben auch eine Ideologiewende: weg von einer naiven quantitativen Zahlengläubigkeit hin zu einer qualitativen Abschätzung. Neue Zeiten bedürfen stärker denn je neuer Prognosemethoden. Es bedarf eher längerfristiger Vorausschau, was sein könnte, als einer kurzfristigen Voraussage, was sein wird.
Mehr Demut und weniger Selbstüberschätzung dürfte das Prognosependel von den Fakes wieder zu den Fakten zurückschwingen lassen.

Fazit

Die Aussagen über den (Un)Wert von historischen, ökonomischen Erfahrungen mag den ein oder anderen zu heftigem Widerspruch animieren. Schließlich ist der Mensch als handelndes Organ gleich geblieben, mit seiner Irrationalität, seiner Emotionalität (getrieben von Angst und Gier). Aber selbst die Boom-and-Bust-Zyklen hatten stets andere Kipp-Faktoren: Finanzkrise, Dotcom-Bubble, Zinsanhebungszyklen, Ölkrisen etc.

Auch der ständige Hinweis der Wirtschaftshistoriker mit der großen Verschuldung hat seine überragende Bedeutung verloren. Wie der Wirtschaftshistoriker Professor Schmelzing dargelegt hat, fallen die Zinsen in Schüben bereits seit dem 14. Jahrhundert und sind jetzt bei null Prozent angelangt. Natürlich kann es in einer Marktwirtschaft keinen „Free Lunch“ geben. Aber aus der jetzigen Verschuldung gleich einen nahen Kollaps zu prognostizieren? Siehe Japan..

Vergleiche mit 1929 müssen schon deshalb hinken, weil damals die Landwirtschaft der dominierende Faktor war, in einer Zeit weit vor dem Internet. Heute beträgt deren Anteil nicht einmal mehr ein Prozent am US- Bruttoinlandsprodukt. 1930 mussten in den USA Abertausende von Kindern auf den Feldern mitarbeiten, um nicht zu verhungern, während heutzutage Tausende Tonnen Lebensmittel bei Aldi und Co nach dem (engen) Verfallsdatum weggeworfen werden (müssen). Und der zweite Kernunterschied: Damals wurde die Geldmenge durch die Notenbank um 30 Prozent verknappt, vieles liquidiert, heute wächst M1 in den USA um 30 Prozent. Das hat natürlich Einfluß auf die Börse!

Der Wandel der Wirtschaft hat ein atemberaubendes Tempo angenommen, im Zeitalter der Digitalisierung, Robotisierung, beim Heranreifen von künstlicher Intelligenz und Kryptowährungen. Aber auch in der Medizin: Entwicklung eines Impfstoffs innerhalb eines Jahres. Stichwort: Noch nie ist es der Menschheit gelungen…..!

Wie Nobelpreisträger Kahnemann schon andeutete, ist niemand in der Lage hier noch vernünftige Prognosen abzugeben. Was sich durchsetzen wird z.B. E-Mobilität oder Wasserstoff, unterliegt auch oft dem Zufall.

Das gilt erst recht für Prognosen für die Börse. Wer in der ersten Februarhälfte das Beben der Börse hätte timen können, wäre mit simplen Hebelprodukten ganz schnell reich geworden, zumindest wenn er finanziell zumindest der Mittelkasse angehört hat. Der Schlusssatz von Professor Straubhaar hat es in sich: „Keine Prognose ist manchmal die beste Prognose!“

Machen Prognosen für die Börse und die Wirtschaft überhaupt noch Sinn?



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3 Kommentare

  1. Welche Methoden auch immer zur Prognostjik nun neu entwickelt werden, es wird immer die allumfassende Tatsache bleiben, dass der Handel nicht lange mit Luftnummern die Menschheit ernähren kann. Erstaunlich ist jedoch, dass Marktteilnehmer genau wissen, dass das Geld zusehends eine Luftnummer ist, aber noch solange daran festhalten, solange damit echte Werte ergaunert werden kann.

  2. @Mike

    Warum ist das erstaunlich? Mit einer „Luftnummer“ echte Werte kaufen, ist doch ziemlich vernünftig.

  3. @Mike, an der Börse kümmert man sich eher darum, ob der Kaviar beim nächsten Privatjetflug auch zum Champagner passt. Ob man Abends mit der Edel-Escort-Mitarbeiterin Austern schlürft oder lieber bodenständig bei Jakobsmuscheln bleibt. Ob man die Menschheit ernähren kann, ob alle 10 Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, sind die weit entfernten Probleme Anderer. Und solange man mit dem Geld, dem Vermögen und dem Einsatz Anderer ohne nennenswertes Risiko den eigenen Hedonismus befriedigen kann, ist das alles weder erstaunlich, noch wird sich etwas ändern.

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