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Ist ein Weltkrieg unausweichlich, oder blufft Russland nur? Experten antworten

Zwei Experten beantworten Fragen zur tatsächlichen militärischen Stärke Russlands, und zu den möglichen Szenarien für den Ausgang des Kriegs.

Wladimir Putin

Ist ein Weltkrieg unausweichlich, oder blufft Russland nur? Experten des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg geben Antworten.

Angst vor Weltkrieg – die offenen Briefe – Pest oder Cholera

Kein Thema beschäftigt Deutschland momentan mehr als der Krieg in der Ukraine. Deutschland ist in zwei Lager gespalten.Das eine sagt: wir sollten – aus Angst eines 3. Weltkrieges – weder direkt noch indirekt weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern.

278.122 Menschen haben in einer Petition dafür unterschrieben (stand 18.05.2022 18:20). Das andere Lager sagt: Die Ukraine sollte man rasch mit allen Waffen auszustatten, die sie braucht, um die russische Invasion abzuwehren und gleichzeitig russischen Energieexporte mit einem Embargo belegen, um dem Regime die finanziellen Mittel für den Krieg zu entziehen. Man sollte der Ukraine eine verbindliche Beitrittsperspektive zur Europäischen Union eröffnen. 69.838 Menschen haben dafür unterschrieben (stand 18.05.2022 18:20) .

Brief I: 79,93 % derjenigen die in einer anderen Petition abgestimmt haben, sind gegen schwere Waffenlieferungen. Brief II: 20,07 % sind für die Lieferung schwerer Waffen. Da die Briefe unterschiedlich gestartet sind, erlaube ich mir den Durchschnitt zu errechnen. Brief I: am 29.04.2022 (20 Tage) 13. 906 – 74,92 %. Brief II: am 04.05.20222 (15 Tage) 4655 – 25,07 %. Das Ergebnis ist eindeutig!

Ist Russland der Nato technisch überlegen?

Hierzu spreche ich mit dem Experten Herrn Tim Thies. Herr Thies arbeitet für das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Der Forschungsschwerpunkt von Tim Thies liegt im Bereich der Rüstungskontrolle. Er untersucht insbesondere, wie die Einführung neuer konventioneller Waffen, wie etwa hypersonische Gleitflugkörper, die Krisenstabilität in ausgewählten Regionen beeinflussen kann.

FMW: Hat die russische Armee durch ihre Hyperschallrakete Kinschal ein Ungleichgewicht zwischen den Atommächten geschaffen?

Tim Thies: Generell lässt sich das militärische Kräfteverhältnis nur schwer quantifizieren, und der Einfluss eines spezifischen Waffensystems ist schwierig zu bestimmen. Die Kinschal-Rakete wird von einem Flugzeug aus abgeschossen und kann während ihres Flugs bei hoher Geschwindigkeit die Richtung verändern. Damit ist sie zwar ein technisch anspruchsvolles System, sie stellt aber eher eine Weiterentwicklung von Russlands bisherigen Fähigkeiten dar, als dass sie das bisherige Kräfteverhältnis auf den Kopf stellen würde. Russland hat schon seit 2018 einen landgestützten Vorgänger der Kinschal-Rakete dauerhaft in Kaliningrad stationiert – und damit in direkter Nachbarschaft zu den östlichen NATO-Staaten. Bereits diese und viele andere russische Waffensysteme können Ziele in europäischen NATO-Ländern bedrohen. Im strategischen Kräfteverhältnis zwischen den USA und Russland, also wenn es um das Szenario eines Nuklearkriegs geht, spielt die Kinschal-Rakete hingegen keine zentrale Rolle.

Wie weit sind die Chinesen?

FMW: Im Juli 2021 testete China eine atomfähige Hyperschallrakete. Hatte China diesen Test erfolgreich abgeschlossen?

Tim Thies: Das lässt sich von außen schwer beurteilen. China hält sich mit Informationen bedeckt und behauptet, es hätte sich um ein Raumschiff gehandelt. Mitarbeiter des amerikanischen Verteidigungsministeriums sagen hingegen, China habe einen Flugkörper auf der Erdumlaufbahn getestet, mit dem es die USA über den Südpol statt auf dem kürzesten Weg angreifen könnte. Auf dieser Flugbahn könnte der Flugkörper die amerikanische Raketenabwehr umfliegen. Zudem soll der Flugkörper bei seinem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre ein zweites Projektil abgefeuert haben. Dieser Schritt wäre technisch extrem herausfordernd, und scheint die USA beeindruckt zu haben.

FMW: Die Berichte über Geschwindigkeit und Genauigkeit der Kinschal-Rakete gehen weit auseinander. Man spricht hier von 6.000 bis über 14.000 Km/h. Haben Sie genauere Erkenntnisse dieser Waffe?

Tim Thies: Die absolute Geschwindigkeit der Kinschal-Rakete lässt sich mit öffentlich zugänglichen Informationen nicht überprüfen. Für moderne Flugabwehrsysteme mag sie durch ihre hohe Geschwindigkeit und ihre Fähigkeit, die Flugrichtung anzupassen, eine neue Herausforderung darstellen. Aber auch mit seinen bisherigen Waffensystemen war Russland in der Lage solche Abwehrsysteme zu überwinden.

Auch die Treffgenauigkeit der Kinschal-Rakete ist öffentlich nicht bekannt. Die Kinschal-Rakete kann schneller und weiter fliegen als die verwandten bodengestützten Iskander-Raketen. Damit können sich aber auch die Fehlerquellen für ihre Lenk- und Steuersysteme erhöhen. Bei niedriger Geschwindigkeit ist es einfacher, ein Ziel präzise anzusteuern. Zudem ist die Oberfläche des Flugkörpers bei höherer Geschwindigkeit größeren Widrigkeiten durch den Luftwiderstand ausgesetzt. Dies stellt eine zusätzliche Fehlerquelle dar.

FMW: Wie realistisch ist es, das Russland und China diese Hyperschallrakete zusammen entwickelt haben, oder sich zumindest über die Forschungsergebnisse ausgetauscht haben?

Tim Thies: Die Kinschal-Rakete ist eine luftgestützte Variante der Iskander-Rakete, welche von landgestützten Transportern aus abgeschossen wird. Das technologische Fundament für ihre Entwicklung wurde in der Sowjetunion gegossen. Meines Erachtens deutet nichts darauf hin, dass Russland für die Entwicklung auf chinesisches Know-How angewiesen wäre.

Andersherum unterstützt Moskau Peking mit Flugabwehrsystemen und der Entwicklung eines Frühwarnsystems für Raketenangriffe. Chinas Hyperschallrakete des Typs DF-17 und andere Prototypen scheinen aber aus eigener Forschung und Entwicklung zu stammen. China hat enorme Ressourcen für die Entwicklung dieser Technologie aufgewendet und dürfte nicht nur Russland, sondern auch den USA in einigen Aspekten voraus sein.

Haben die USA die falschen Prioritäten gesetzt?

FMW: Warum haben die USA, zur Abschreckung, aus Ihrer Sicht es nicht geschafft eine ähnliche Technik zu entwickeln?

Tim Thies: Hyperschallraketen hatten in Russland und China eine viel höhere Priorität als in den Vereinigten Staaten. Peking und Moskau fürchten, dass die USA ein technologischer Durchbruch bei der Raketenabwehr gelingen könnte. Hyperschallraketen fliegen tiefer als ballistische Raketen. Somit können viele der amerikanischen Abwehrsysteme sie nicht abfangen. Hyperschallraketen bieten für Russland und China also eine Art Zusatzversicherung, mit der sie sicherstellen wollen, die Raketenabwehr der USA auch langfristig überwinden zu können.

Russlands Hyperschallraketen können sowohl nukleare als auch konventionelle, also nichtnukleare Sprengköpfe tragen. Die USA wollen ihre geplanten Hyperschallraketen hingegen ausschließlich konventionell ausrüsten. Mit weniger Sprengkraft muss eine Rakete aber präziser sein, um ihr Ziel zu zerstören. Dieser höhere Anspruch ist ein weiterer Teil der Erklärung. Drittens ist nicht jedes Waffensystem, was Hyperschallrakete genannt wird, technisch gleich anspruchsvoll. Kinschal fällt unter den Modellen die China, Russland und die Vereinigten Staaten derzeit entwickeln, trotz allem eher in die relativ einfache Kategorie.

FMW: Ist es theoretisch möglich diese Rakete, zum Beispiel mit einer Trägerrakete, auch vom Boden aus zu starten?

Tim Thies: Das wäre dann die Iskander-Rakete, die Russland seit 2018 dauerhaft in Kaliningrad stationiert hat. Diese Rakete ist aber langsamer und hat eine kürzere Reichweite als Kinschal. Kinschal wird von einem Kampfflugzeug bereits vor dem Abschuss beschleunigt und auf eine gewisse Flughöhe gebracht, wo die Luft bereits sehr dünn ist. Somit spart die luftgestützte Variante viel Antriebskraft ein, welche die bodengestützte Iskander-Rakete bereits in den ersten Sekunden verbraucht.

FMW: Könnte diese Hyperschalltechnik auch als Abwehrschirm, ähnlich wie der in Israel entwickelte Iron Dom, eingesetzt werden?

Tim Thies: Hyperschallraketen sind eng mit bisherigen ballistischen Raketen verwandt. Der Unterschied zwischen den beiden Kategorien liegt nicht in der Geschwindigkeit, denn tatsächlich sind ballistische Raketen unter gleichen Voraussetzungen schneller als Hyperschallraketen. Letztere sind jedoch so weiterentwickelt, dass sie einen relativ großen Teil ihres Flugs innerhalb der Erdatmosphäre verbringen. Ballistische Raketen fliegen die meiste Zeit im Weltall und tauchen erst kurz vorm Ziel wieder in die Erdatmosphäre ein. Um von der extremen Hitze, die durch den Luftwiderstand in der Atmosphäre auftritt, nicht zerstört zu werden, brauchen Hyperschallraketen etwa einen stärkeren Hitzeschutz als ballistische Raketen.

Abfangraketen sind in einigen Aspekten ebenfalls mit Hyperschallraketen und ballistischen Raketen verwandt. Sie sollen heranfliegende Flugkörper in der Regel per Kollision zerstören. Damit haben Abfangraketen ein anderes Anforderungsprofil, und es stellen sich andere technische Herausforderungen. Einige der Forschungserkenntnisse, die bei der Entwicklung von Hyperschallraketen gewonnen werden, mögen auch zur Entwicklung von Abfangraketen beitragen. Was Hyperschallraketen ausmacht, ist aber der relativ lange Flug in der Erdatmosphäre ohne integrierten Antrieb. Aus meiner Sicht würde es wenig Sinn machen, dieses Prinzip auf Abfangraketen anzuwenden.

Kauft Deutschland die falsche Rüstung?

FMW: Der Stern berichtete am 28.03.2022: „Die Bundesregierung prüft mit Blick auf den Ukraine-Krieg und die Bedrohung durch Russland den Kauf eines Raketenschutzschilds. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Überlegungen bestätigt, angesichts der Bedrohung durch Russland das israelische Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ anzuschaffen.“

FMW: Wie sinnvoll ist denn die Überlegung unserer Bundesregierung über die Anschaffung eines Iron Doms nachzudenken?

Tim Thies: Das Flugabwehrsystem Iron Dome ist für einen Teil der spezifischen Bedrohungslage von Israel ausgerichtet. Es kann ein relativ kleines Gebiet vor eher einfachen Zielen beschützen. Ein Gebiet von der Größe Deutschlands oder darüber hinaus ließe sich mit einem solchen System kaum vor russischen Kurz- und Mittelstreckenraketen beschützen. Die Bundesregierung erwägt jedoch den Kauf des Arrow-3-Systems. Das wäre besser geeignet, um Kurz- und Mittelstreckenraketen abzufangen. Man darf sich jedoch auch hier keine Illusionen machen, dass damit ein flächendeckender Schutz vor russischen Raketen erreicht werden kann.

Das Arrow-3-System könnte immerhin ausgewählte Ziele in einem begrenzten Umfang beschützten. Deutschland müsste sich mit den NATO-Verbündeten abstimmen, um dieses System möglichst sinnvoll in eine gemeinsame Strategie einzubetten. Gleichzeitig ist zu beachten, dass Russland neue Angriffsraketen wie etwa Kinschal entwickeln kann, die schwieriger abzufangen sind. Einen technologischen Ausweg aus der grundsätzlichen Verwundbarkeit gegenüber russischen Waffen halte ich deshalb nicht für realistisch.

Droht ein dritter Weltkrieg, wenn die Ukraine Russland zurückdrängt?

Hierzu befrage ich Herr Dr. Ulrich Kühn.

Dr. Ulrich Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs „Rüstungskontrolle und Neue Technologien“ am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Dr. Kühn arbeitet an den Schnittstellen von Sicherheitsstudien und Konfliktforschung. Im Fokus seiner wissenschaftlichen Arbeit stehen Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsmechanismen, das Paradigma der Abschreckung, euroatlantische und europäische Sicherheit sowie internationale Sicherheitsinstitutionen. Konkret forscht Ulrich Kühn zu nuklearen Politiken, zu Sicherheitsmechanismen zwischen der NATO und Russland, zur konventionellen Rüstungskontrolle in Europa, zur Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands, der USA und Russlands, und zu Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Artikel und Kommentare zu seinen Forschungsthemen erschienen unter anderem in Foreign Affairs, The New York Times, The Washington Quarterly, Bulletin of the Atomic Scientists und War on the Rocks.

FMW: Das russische Staatsfernsehen veröffentlichte vor kurzem ein Szenario, in dem gezeigt wurde, dass man in der Lage wäre innerhalb von 106 Sekunden per Knopfdruck Berlin, Paris und London auszulöschen. Ist es tatsächlich in dieser Kürze möglich?

Dr. Kühn: Das erscheint mir doch ein wenig übertrieben. Selbst ballistische Mittelstreckenwaffen mit unter 5.500 km Reichweite oder von einem russischen U-Boot abgeschossene ballistische Raketen mit einer unterdrückten Flugbahn würden wohl mehrere Minuten brauchen. Ich würde die Aussage momentan eher als Propaganda bewerten wollen.

FMW: Könnte Russland in ein paar Minuten alle Atom-Militärbasen in Europa, welche ja bekannt sind, vernichten? Aber ein Gegenschlag der USA, die dann ja mit den Fakten und der entsetzlichen Zerstörung des Erstschlags konfrontiert sind, würde dann ja nicht automatisch starten.

Dr. Kühn: Russland könnte jederzeit alle NATO-Militärbasen in West- und Südeuropa mit seinen Nuklearwaffen vernichten. Ein Gegenschlag der USA würde erst erfolgen, wenn ihn der US-Präsident anordnen würde.

FMW: Nach Meinung einiger Experten würde sich der Präsident der USA in so einem Ernstfall mit dem verantwortlichen Adjutanten des Atomkoffers in Verbindung setzten. Der Adjutant würde in Folge eine Telefonkonferenz mit dem US-Verteidigungsminister sowie dem Stabschef (Joint Chiefs of Staff) und dem Präsident die Lage analysieren und beraten. Diese Beratung dauert sicher einige Minuten. Ist das so richtig?

Dr. Kühn: Richtig ist, dass nur der US-Präsident, und nur der US-Präsident allein, über den Einsatz von Nuklearwaffen entscheiden kann. Er kann sich dazu mit dem Verteidigungsminister oder wem auch immer beraten – muss es aber nicht. Um die Befehlskette in Gang zu setzen, benötigt der US-Präsident den Atomkoffer (nuclear football) und die entsprechende Code-Karte (nuclear biscuit).

FMW: Wenn zu diesem Zeitpunkt keine Raketen im Anflug auf die USA sind, wie wahrscheinlich ist dann ein Gegenschlag der USA auf Russland, wohlwissend das es gleichzeitig auch das Ende der USA bedeuten würde?

Dr. Kühn: Darüber kann man nur spekulieren. Die NATO hat eine Beistandsklausel (Art. V), die bewusst vage formuliert ist.

FMW: Anfang April haben Sie Herrn Ole Apitius im Auftrag des ZDF sechs Szenarien beantwortet. Die Fragen waren folgende: Russland gewinnt militärisch. Diese Option hielten Sie für realistisch. Wie sehen Sie es jetzt?

Dr. Kühn: Ich halte es noch immer für möglich, dass Russland einen längeren Krieg über mehrere Monate oder gar Jahre gegen die Ukraine militärisch für sich entscheiden könnte. Dies wird jedoch angesichts der schlechten militärischen Performance der Russen und der erfolgreichen Gegenwehr der Ukrainer zunehmend schwieriger.

FMW: 2. Die Ukraine kapituliert. Dass die Ukraine kapituliert, hielten Sie zu diesem Zeitpunkt für unrealistisch. Wie schätzen Sie diese Frage aktuell ein?

Dr. Kühn: Ich halte es nach wie vor für sehr unwahrscheinlich, dass die Ukraine kapituliert.

FMW: 3. Russlands Vormarsch kommt zum Erliegen. Anfang April hielten das für ein realistischste Szenario. Wie schätzen Sie dieses Szenario jetzt ein?

Dr. Kühn: Das ist weiterhin ein durchaus realistisches Szenario: ein mehrmonatiger oder mehrjähriger Stellungskrieg à la Verdun.

FMW: 4. Die Ukraine verteidigt sich erfolgreich.

Hier haben Sie eine Antwort gegeben, die mich sehr nachdenklich macht, denn dieses Szenario ist ja auch das Ziel Europas und der USA.

Sie antworteten: Ein ebenfalls denkbarer, wenn auch nicht naheliegender Ausgang. Denn vieles hängt jetzt vom Ausgang des erwarteten zweiten russischen Angriffs ab. Wenn auch dieser scheitert, „dann ist theoretisch alles möglich.“ Denn dann wüsste niemand „wo die Ukraine militärisch stoppen würde.“ „Also würde sie dann an der Grenze zu den selbsternannten Republiken Luhansk und Donezk stoppen, oder würde sie die Russen bis zu den wirklich international festgeschriebenen Grenzen der Ukraine zurückwerfen?“ Es sei überhaupt nicht klar, „wie Selenskyj in diesem Szenario seine Ziele formulieren würde.“

Sehen Sie das momentan genauso und würde dieses Szenario nicht unweigerlich, wenn Putin sozusagen mit dem Rücken an der Wand steht, zu einer neuen Eskalationsstufe führen?

Dr. Kühn: So sehr viele unter uns, und zurecht, wie ich denke, der Ukraine wünschen, den Angreifer zurückzuschlagen, so sehr stellt sich doch die Frage nach der russischen Reaktion auf dieses zunächst positiv erscheinende Szenario. Was genau würde geschehen, wenn es den ukrainischen Truppen gelingt, das russische Militär zurückzudrängen; und bis wohin? Bis zur Grenze der künstlichen „Republiken“ Donezk und Lugansk? Bis zur russischen Staatsgrenze; oder gar darüber hinaus? Welchen Plan hat der Westen, in diesem Fall seinen Einfluss auf Präsident Selenskyj geltend zu machen; und sollte oder dürfte er dies unter moralischen Gesichtspunkten überhaupt? Anstatt uns in der Presse immer wieder über die möglichen Einsatzformen einer russischen nuklearen Eskalation auszutauschen, sollten wir besser unseren Blick auf die möglichen Konditionen eines russischen Nuklearwaffeneinsatzes schärfen.

FMW: 5. Der Krieg eskaliert nach Westeuropa. Ihre Antwort: Möglich, aber unwahrscheinlich.

Sehen Sie das jetzt, fünf Wochen nach Ihrem Interview, noch genauso?

Dr. Kühn: Weiterhin unwahrscheinlich.

FMW: 6. Ein Putsch, Putin wird gestürzt. Dieses Szenario hielten Sie für unrealistisch.

Wie würden Sie heute auf diese Frage antworten?

Dr. Kühn: Weiterhin unrealistisch.

FMW: Welche Versuche müssten aus Ihrer Sicht unternommen werden, um der Krieg zu beenden?

Dr. Kühn: Bevor man über konkrete Beendigungsversuche sprechen kann, sollte man sich erst einmal im Westen darüber klarwerden, welche Ergebnisse des Krieges überhaupt akzeptabel und wünschenswert wären. Dies allein in die Hände der ukrainischen Führung zu legen, ist zwar moralisch nachvollziehbar, strategisch aber unter Umständen nicht klug. Klar muss aber auch sein: um den Krieg beenden zu können, muss der Kreml ein wirkliches Interesse an Deeskalation zeigen.

FMW: Ist es richtig ukrainische Soldaten auf deutschen Boden an Waffen auszubilden, die im Ukraine-Krieg eingesetzt werden sollen?

Dr. Kühn: Wenn sich die Bundesregierung für die Lieferung von schwerem militärischem Spezialgerät an die Ukraine entscheidet, ist es nur logisch, dafür auch die ukrainischen Soldaten auszubilden. Der Eindruck, dass Deutschland damit zu einer indirekten Kriegspartei wird, verstärkt sich dadurch gleichwohl.

Ich bedanke mich recht herzlich für das Interview bei Herrn Dr. Kühn und Herrn Thies vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.



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9 Kommentare

  1. Über solche Experten kann ich nur den Kopf schütteln. Die anderen sind schuld, nur ich nicht. Peinlich.

  2. „…Dr. Kühn: Russland könnte jederzeit alle NATO-Militärbasen in West- und Südeuropa mit seinen Nuklearwaffen vernichten. Ein Gegenschlag der USA würde erst erfolgen, wenn ihn der US-Präsident anordnen würde…“

    Welcher US-Präsident würde wohl die Existenz seines bislang unversehrten Landes mit einem Gegenschlag aufs Spiel setzen?
    Kein einziger, da bin ich mir sicher…todsicher.
    Aber man würde uns armen verstrahlten Leuchtwürmchen sicher großzügige Wiederaufbauhilfen zukommen lassen, inklusive Jodtabletten für alle.

  3. Russland in die NATO und das sterben hört auf.

  4. Liebe Finanzmarktwelt,

    warum bleibt ihr nicht bei euren Stärken (Finanzwelt) und lasst die Geopolitik von Leuten analysieren, die etwas davon verstehen?

    Schon der Titel des Artikels ist derart tendenziös und suggestiv – da muss man sich den Rest der Plattitüden nicht mehr antun.

    Die einzig reale Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs liegt in beiderseitigen, unabsichtlich Fehlreaktionen – ein Historiker wie Fugmann sollte dies eigentlich wissen. Jede Eskalation des Krieges – sei es verbal oder durch Waffenlieferungen – sollte tunlichst unterlassen werden.

    Diejenigen die wirklich bereit sind mit dem Feuer zu spielen sind mehrere tausend Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt (USA & Vasallen).

    1. Was für ein Artikel. Es muss unbedingt geteilt werden.
      Die Situation wird sachlich und präzise beschrieben.

  5. Bin so klug als wie zuvor. Sehr toller Artikel!

  6. Ich denke auch dass ein dritter Weltkrieg in absehbarer Zeit wohl nicht mehr zu vermeiden ist. Das Szenario eines Erstschlags auf Europa wird im Kreml bereits diskutiert. In Frankreich und England sind allerdings mehrere 100 Atomwaffen stationiert die nicht unter dem Einfluß der USA stehen. Und über diese europäischen Raketen erfolgt der Gegenschlag. Diese Raketen sind übrigens nicht nur landgestützt sondern auch auf U-Booten montiert. Im Ergebnis zerfällt dann auch Russland zu Staub. Aber bevor Russland untergeht werden sie ihre Interkontinenal-Raketen in Richtung USA senden. Dann wenn Russland zu Staub zerfällt, dann nehmen die Russen die Amerikaner mit ins Jenseits. Für den Fall dass sich das Ganze doch friedlich auflöst: Die Gefahr eines dritten Weltkriegs ist auch dann noch nicht gebannt. Sobald China Taiwan angreift … aber das ist ein anderes Thema. Meine Koffer sind jedenfalls gepackt … und ich möchte den Weltuntergang dann in den Dünen von Maspalomas erleben.

  7. Bei einem nuklearen Krieg, den ja Russland von sich aus angedroht hat, wird es keine „Gewinner“ geben.

    „In Frankreich und England sind allerdings mehrere 100 Atomwaffen stationiert die nicht unter dem Einfluß der USA stehen. Und über diese europäischen Raketen erfolgt der Gegenschlag. Diese Raketen sind übrigens nicht nur landgestützt sondern auch auf U-Booten montiert.“

    Na ja eines wäre dann sicher, die angegriffenen Regionen wären nuklear verseucht., Millionen eher sogar Milliarden Menschen würden sterben, ich würde eher von Milliarden sterbenden Menschen ausgehen, und was könnte sich Russland angesichts Ihrer vermeintlichen nuklearen Übermacht dafür kaufen ? Ich würde mal sagen, nichts ?!?

    St.Petersburg, Moskau, der „westliche“ Teil Russlands, würde dann mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr existieren, Europa ebenso, die Amis würde es ebenso erwischen, eher die West- und die Ostküste. Auch bei uns in Deutschland sind heftige Atomwaffen vorhanden, es ist nicht nur Frankreich und GB.

    ein 3. Weltkrieg würde die Auslöschung der Menschheit bedeuten.

    Und meines Erachtens hat ein Herr Putin vor, sich die Ostukraine nebst dem Zugang zur Krim zu sichern, welches er übrigens gegenüber dem finnischen Staatspräsidenten in einem Telefonat sagte.

    Das Problem wird sein, dass die Ukraine davon gar nichts hält.

    Und von einem 3. Weltkrieg ist aber nicht auszugehen.

  8. Young Global Leader

    „Dr. Kühn: Bevor man über konkrete Beendigungsversuche sprechen kann, sollte man sich erst einmal im Westen darüber klarwerden, welche Ergebnisse des Krieges überhaupt akzeptabel und wünschenswert wären.“

    Die Endbedingung des Westens kennen wir bereits: der russische Rubel soll implodieren, daraufhin kommt es in Russland zu Volksaufständen und Putin wird durch einen pro-westlichen Politiker ersetzt. Da nichts davon passiert und Russland den kinetischen Krieg in der Ukraine gewinnt ( wenn ihnen der Sieg im Südosten denn reichen wird und sie die Ukraine nicht komplett terminieren wollen, wie die Hardliner in Russland ) und den Wirtschaftskrieg gegen den Westen, muss sich der Westen nun neue Ziele setzen und man kann nur hoffen, dass sie weniger phantastisch sein werden als die vorigen. Ich kann mir das alles nicht so richtig vorstellen. Ich möchte jetzt kein Berater von Uschi oder Joe sein. Auch der Rücktritt dieser beiden Führungsfiguren würde noch kein Problem lösen.

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